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an der bescheidenheite […] / sô toup und alsô rehte blint Die Förderung höfischer Dichtung im Mittelalter in der Perspektive soziologischer Habitus- und Geschmackstheorien

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Robert Gisselbaek

Robert Gisselbaek (Université de Genève)

an der bescheidenheite […] / sô toup und alsô rehte blint

Die Förderung höfischer Dichtung im Mittelalter in der

Per-spektive soziologischer Habitus- und Geschmackstheorien

In seiner umfangreichen Einleitung zu dem Band „Das fremde Schöne” ver-weist Manuel Braun auf einen „doppelten Standard” in der fachinternen Kom-munikation germanistischer Mediävistik1: So seien „Aussagen zur Qualität

li-terarischer Texte aus der ‚offiziellen’ Kommunikation, aus Vorträgen und Pu-blikationen, nahezu vollständig verschwunden […], doch behaupten sie sich wie selbstverständlich im ‚inoffiziellen’ Gespräch”.2 Und hellsichtig führt Braun

aus, dass sich die Forschung, welche die qualitative Dimension ihres Gegen-standes so erfolgreich tabuisiere, faktisch gerade mittels dieser Dimension organisiert: Kanonbildung, Editionsprojekte und Forschungstrends basieren (in der Regel folglich unreflektiert) auf den Werturteilen der Forschungsge-meinschaft.3 Jede Entscheidung für einen zu untersuchenden Text stellt somit

eine Wertung dar, die (ebenfalls unreflektiert) wieder auf das Normen- und Wertsystem der Forscher zurückwirkt. Die Bedeutung der Qualität, des Wer-tens und der Werturteile also, die den Umgang mit Literatur und Dichtung in jeder Hinsicht wesentlich bestimmt, erweist sich von daher als blinder Fleck der Wissenschaft – und zugleich als enorme Herausforderung für die Ausein-andersetzung mit der fremden Schönheit mittelalterlicher Texte.

Verstärkt wird die Herausforderung der Wissenschaft durch die vormo-derne Schönheit noch insofern, als die Beschäftigung mit der qualitativen Dimension schwieriger zu werden scheint, je größer der zeitliche Abstand

1 Manuel Braun: Kristallworte, Würfelworte, Probleme und Perspektiven eines Projekts

‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur’. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Äs-thetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems. und Christopher Young. Berlin 2007, S. 1–40, hier S. 33.

2 Braun, Kristallworte (wie Anm. 1), S. 33f. In diesem Sinn auch John M. Hill: On

Aesthetics and Quality: An Introduction. In: On the aesthetics of Beowulf and other Old English poems. Hrsg. von dems. Toronto 2010, S. 3–23, hier S. 10, der für die Forschung zur altenglischen Dichtung die gleiche Beobachtung macht.

3 Braun, Kristallworte (wie Anm. 1), S. 34f. Zur methodisch unreflektierten Bedeutung

ästhetischer Aspekte bei der Kanonbildung Regina Töpfer: Wie wird ein Werk zum Klassiker? Kriterien, Probleme und Chancen mediävistischer Kanonbildung. In: Klas-siker des Mittelalters. Hrsg. von ders. Hildesheim 2019, S. 1–33, bes. S. 14–17.

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zum untersuchten Gegenstand wird. Für die Mediävistik wird die Auseinan-dersetzung mit der Qualität noch dadurch erschwert, dass sich die (philoso-phische) Ästhetik erst im 18. Jahrhundert entwickelt, was zur Folge hat, dass ästhetisch nicht einholbare Bezüge etwa zu den vorausgehenden metaphysi-schen Konzeptionen der Schönheit einen unmittelbaren Zugang zum histo-risch Schönen nachgerade verunmöglichen. Die scheinbare Konzentration mittelalterlicher Theorie auf die metaphysische Dimension führt nämlich dazu, dass gewohnte Fragen nach dem Ästhetischen hier zwangsläufig ins Leere laufen. Hinzu kommt, dass ein subjektives Empfinden, welches sich ohnehin – selbst in empirischen Studien – weitgehend dem wissenschaftli-chen Zugriff entzieht, für vergangene Epowissenschaftli-chen ausschließlich aus Urteilen abgeleitet werden müsste, deren Aussagewert im Kontext der Überlieferung betrachtet werden muss: Da vor der Renaissance kaum Quellen zu unmittel-baren Urteilen und Wertungen in Bezug auf Dichtung, Kunst und Schönheit greifbar sind, fällt die Auseinandersetzung mit Qualitätsvorstellungen zwangsläufig auf sekundäre Aussagen zurück, denen – etwa im Kontext von Lebensbeschreibungen (vitæ), Chroniken oder literarischen Werken selbst – eine ganz bestimmte Wirkabsicht zukommt.4 Sogar der Hinweis auf den

Lohn, den Walther von der Vogelweide im November 1203 vom Bischof Wolf-ger von Erla erhält, wie die Rechnungsbücher des letzteren belegen, enthält kein Werturteil – wenn man den Lohn nicht schon als Hinweis auf die Wert-schätzung schöner Literatur sehen möchte.5 Der direkte Bezug von

materiel-lem Aufwand und dem Wert eines Gedichts, wie er in der Betrachtung von

4 Sogar die scheinbar ästhetischen Betrachtungen der Kirchenschätze durch den Abt

Suger von Saint-Denis sind, wie neueste Studien darlegen, nicht Ausdruck von Schönheitsempfinden, sondern dienen der Aufwertung des Konvents bzw. des Or-dens. Cf. Andreas Speer: Kunst ohne Kunst? Interartifizialität in Sugers Schriften zur Abteikirche von Saint-Denis. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle und Ursula Peters (Sonderheft zum Band 128 der Zeitschrift für deutsche Philologie). Berlin 2009, S. 203–220, hier S. 205. Zur Stelle bei Suger cf. Abt Suger von Saint-Denis: Ausgewählte Schriften. Ordinatio, De consecratione, De administratione. Hrsg. von Andreas Speer und Gün-ther Binding. Darmstadt 2000, hier: De administratione, 224. Zu sonstigen Quellen cf. Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfi-schen Literatur in Deutschland 1150–1300. München 1979, S. 21ff.

5 Gerhard Hahn: Art. „Walther von der Vogelweide”. In: Die deutsche Literatur des

Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stammler und Karl Langosch. Berlin 1978–2007. Bd. 10, Sp. 665–697, hier Sp. 670. Für die Dichtung zeigt sich, dass Aussagen etwa zur Wertschätzung durch Mäzene und das Publikum nicht tel quel gelesen werden dürfen, da die Dichter stets darum bemüht sind, diese für sich und Literatur im Allgemeinen erst zu gewinnen. Cf. Jan-Dirk Müller: Zu einigen Pro-blemen des Konzepts ‚Literarische Interessenbildung’. In: Literarische

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Interessenbil-Mäzenatentum eine zentrale Rolle spielt,6 wird indes durch die

metaphysi-schen Aspekte der mittelalterlichen Kultur drastisch beeinflusst: Zurückge-worfen auf die Auseinandersetzung mit den theoretischen Schönheitsvorstel-lungen, die vor allem dem Guten, Wahren und Göttlichen verpflichtet sind, muss im Rahmen der wissenschaftlichen Untersuchung von Kunstförderung offenbar von jedweder praktischen Relevanz dessen abstrahiert werden, was in den verschiedenen historischen Kontexten als „schön” verhandelt und markiert wird.7

Ziel der folgenden Betrachtungen ist es jedoch, literarisches Mäzena-tentum im Mittelalter von der Qualität her zu begreifen und im Spannungsfeld von praktischen Urteilen und jenen theoretischen Vorstellungen zu verorten, die historisch im Hinblick auf das Urteilen in Geltung standen. Insgesamt geht es darum, Schönheit, Kunst und Kunstförderung durch den Bezug zur Qualität besser verstehen und in der soziologischen Dimension erfassen zu können.8 Dabei geht es explizit um die historische Bedeutung der einzelnen

Werke, denn in der gegenwärtigen Forschung steht einer Bewunderung für die sprachliche Raffinesse, die Bildgewalt und den teils extrem hohen Refle-xionsgrad der geförderten Dichtung9 die Meinung gegenüber, dass die

über-lieferten Texte nichts anderes seien, als zufällig vor dem Verschwinden be-wahrte Liebhabereien von Einzelpersonen, die sich einer absolut marginalen Spinnerei hingegeben hätten, da in der auf Repräsentation und Prachtentfal-tung hin ausgerichteten Präsenzkultur des Mittelalters der DichPrachtentfal-tung bzw. der auf sie verwendeten Geldmittel schlicht keine Relevanz, mithin keine überin-dividuelle Bedeutung zugekommen sein könne.10

6 dung im Mittelalter. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart 1993, S. 365–384, sowie

Peter Strohschneider: Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst, anlässlich von Walthers Thüringer Sangspruch 9, V [L. 20,4]. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Hrsg. von dems. et al. Köln 2002, S. 85–107.

6 Cf. dazu besonders Johannes Fried: Mäzenatentum und Kultur im Mittelalter. In: Die

Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage. Hrsg. von Ulrich Oevermann et al. Berlin 2007, S. 47–72, hier S. 54.

7 Cf. dazu den Überblick bei Braun, Kristallworte (wie Anm. 1), S. 6ff., mit einer Kritik

der älteren Forschung.

8 Cf. dazu meine im Erscheinen begriffene Dissertation mit dem Arbeitstitel „Kunst der

Repräsentation” (Genf 2016).

9 Horst Wenzel: Repräsentation und schöner Schein am Hof und in der höfischen

Li-teratur. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 171–208.

10 Zur Kritik an der Bedeutung von Dichtung für die feudaladelige

Repräsentationskul-tur cf. Andreas Bihrer: Repräsentationen adelig-höfischen Wissens – ein Tummel-platz für Aufsteiger, Außenseiter und Verlierer. Bemerkungen zum geringen

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gesell-Im Rückgriff auf die soziologischen Theorien von Pierre Bourdieu soll dafür ein Modell zur Genese von Wertungen und Bedeutung vorgestellt wer-den, welches – prinzipiell zumindest – ein besseres Verständnis sowohl der Förderung von Dichtung als auch der geförderten Dichtung selbst erlaubt.

I. Soziologie im Mittelalter

Für die Einschätzung höfischer Dichtung, die nur in ihrer Funktion als Auf-tragskunst voll verstanden werden kann,11 bieten sich soziologische

Erklä-rungsmodelle insofern an, als diese zunächst einmal von jenen theoretisch-ästhetischen Konzeptionen von Kunst und Schönheit abstrahieren, die in aller Regel anhand dessen entwickelt worden sind, was seit der Romantik als Kunst und Schönheit gilt. Frühere mediävistische Arbeiten jedoch, die sich soziologischen Theorien verpflichtet fühlten, haben den kulturellen Formen stets so einfache wie eindeutige Funktionen zugewiesen.12 Die Objekte

wur-den insofern als für die Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Prozesse bedeu-tend gedeutet, als ihnen ein Wert vornehmlich für die Markierung sozialer Unterschiede zugesprochen wurde. Dieses Prinzip der sozialen Distinktion ließe sich etwa bei der Abgrenzung des Adels von der bäurischen Sphäre

11 schaftlichen Stellenwert höfischer Literatur im späten Mittelalter. In:

Kulturtopogra-phie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Hrsg. von Barbara Fleith und René Wetzel. Berlin 2009, S. 215–227, Thomas Cramer: brangend unde brogent. Repräsentation, Feste und Literatur in der höfischen Kultur des späten Mit-telalters. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 259–278, Rüdiger Brandt: das ain groß gelächter ward. Wenn Repräsentation scheitert. Mit einem Exkurs zum Stellenwert literarischer Repräsentation. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremo-niell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 303–331, bes. S. 329ff., und Fried, Mäzenatentum (wie Anm. 6).

11 Bumke, Mäzene (wie Anm. 4), S. 9.

12 Cf. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im

Mittelalter. München 1995, S. 19 und 169, ebenso – mit explizitem Bezug zu Bour-dieu – Silvia Schmitz: Das Ornamentale bei Suchenwirt und seinen Zeitgenossen. Zu strukturellen Zusammenhängen zwischen Herrschaftsrepräsentation und poetischen Verfahren. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 279–302, und zuletzt Braun, Kristallworte (wie Anm. 1), S. 23ff., der sich neben Bourdieu vor allem auf Jan Mukařovský: Kapitel aus der Ästhetik. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1974, bezieht, um die Relation zwischen ästhetischer Formgebung und sozialer Distinktion nachzu-zeichnen.

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beobachten,13 was sich in gewisser Weise auch in der höfischen Dichtung

niederschlägt, wo solche Differenzierungen des Öfteren zur Sprache kom-men.14 Doch bleibt das Modell der Distinktion letztlich überaus statisch: Zwar

lässt sich zeigen, dass die höfische Kultur etwa durch die Inauguration spe-zifischer Formen Distanzen markieren bzw. überhaupt erst schaffen würde; die entscheidende Frage nach dem Prinzip jedoch, aufgrund dessen sich die Kultur entwickelt, ihre Formen ausprägt und schließlich gesellschaftlich rele-vante Legitimationen festlegt, wird indes nicht gestellt.15 Da es in der Praxis

aber – gerade für die historischen Akteure – nie nur darum gehen kann, Formen zu identifizieren, die jeweils bereits in Geltung stehen, muss immer zugleich auch entschieden werden können, wie unbekannte oder neue For-men zu bewerten sind.

Für die Betrachtung dieser dynamischen Urteilskompetenz bietet sich nun in erster Linie die Soziologie an. Vor allem in Bourdieus „Die feinen Un-terschiede” werden jene Prozesse deutlich gemacht, nach welchen sich die Kultur – in Abhängigkeit von den Akteuren und Formen der gesellschaftlichen Anerkennung – ausprägt und verändert.16 Arbeiten in der Nachfolge von

Bourdieu gehen jedoch kaum auf die entscheidenden Prinzipien hinter der Distinktion ein und verkürzen die komplexe Argumentation auf ein bloßes Streben nach Unterscheidung, ohne zu sehen, dass die kulturelle Distinktion nicht die eigentliche Ursache, sondern vielmehr die Folge bereits bestehender sozialer Differenzierungen ist17: Die Objektivierungen nämlich schaffen die

Distanzen nicht eigentlich, sondern führen sie eher sinnfällig und nach ganz bestimmten, ihrerseits wieder differenzierend wirkenden Regeln vor

Au-13 Wenzel, Hören (wie Anm. 12); der kulturelle Hintergrund lässt sich mit C. Stephen

Jaeger: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Rit-ter. Berlin 2001, verstehen, der die Unterscheidung von curialitas und rusticitas in der feudaladeligen Elite bei den Bischöfen des 10. und 11. Jahrhunderts vorgeprägt sieht, die ihre kulturellen Normen wiederum in antiken lateinischen Quellen vorge-prägt finden.

14 Besonders nachdrücklich Wenzel, Repräsentation (wie Anm. 9), S.171–176. 15 Cf. zu dieser Kritik bereits Müller, Problemen (wie Anm. 5), hier S. 373 mit Anm. 16. 16 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.

4. Aufl. Frankfurt am Main 1987. Die Terminologie von Bourdieu, also auch der Be-griff des Kapitals (mit der Unterteilung in materielles, kulturelles und symbolisches Kapital), wird hier als bekannt vorausgesetzt und nicht eigens erläutert. Cf. grund-legend Bourdieu, Unterschiede, S. 143–150, sonst pass.

17 Wenzel, Hören (wie Anm. 12), S. 19: Da die Bauern als unzivilisiert und ungehalten

gelten, „muß der Adel Abstand halten, – Abstand zur bäuerlichen Sprache und zu bäuerlichem Handeln. Er muß Grenzen ziehen und auf Distinktion achten, die sicht-bar und hörsicht-bar werden.” In diesem Sinne auch Braun, Kristallworte (wie Anm. 1), S. 24.

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gen.18 Während die Distinktion durchaus eine zentrale Rolle dabei spielt,

so-zialen Aufsteigern die Möglichkeit der Mitbestimmung in einer Gruppe vorzu-enthalten bzw. zu erschweren,19 resultiert die Formgebung der dafür

ver-wendeten Objektivierungen vornehmlich aus der Binnendifferenzierung des verfügbaren Kapitals innerhalb einer spezifischen Gruppe: Die kulturellen Formen reproduzieren die Komplexität der Struktur des Gesamtkapitals der Akteure, wodurch deren Gruppenzugehörigkeit gerade bestimmt wird.20

Wichtig ist dann für die Akteure das Vermögen (i.e. die Kompetenz), ihr Ka-pital innerhalb dieser Gruppe möglichst gewinnbringend und den geltenden Regeln gemäß einsetzen zu können. Dabei darf jedoch nicht übersehen wer-den, dass der (symbolische) Wert kultureller Praktiken und Formen jeweils von den mächtigsten Akteuren in den sozialen Gruppen abhängt, welchen aufgrund von Anerkennung das Recht zukommt, legitime Werte dekreditieren zu können.21

Damit zeigt sich, wie im Sozialen – auch historisch – Bedeutung ent-stehen kann. Der konkrete Wert höfischer Dichtung für die Gönner bestimmt sich demnach nicht (nur) in der bzw. von ihrer Funktion für die Abgrenzung von den niederen Schichten der Feudalgesellschaft her, sondern in Abhängig-keit von den geltenden Prinzipien der Bedeutungsbildung innerhalb der Füh-rungsgruppen.22 Inwieweit sich allerdings der Wert und die historische

Be-18 Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 161, betont den „unbewußt

zugeschrie-benen Distinktionswert” kultureller Qualitäten, der aus der „klassenspezifischen Ver-teilung” resultiere. Die Kritik an Bourdieus Kulturverständnis beruht in der Regel auf dem Verkennen dieses Prinzips. Cf. z.B. Axel Honneth: Die zerrissene Welt der sym-bolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus. In: Ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 1990, S. 156–181, oder Ulrich Oevermann: Für ein neues Modell von Kunst- und Kulturpatronage. In: Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersu-chungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage. Hrsg. von dems. et al. Berlin 2007, S. 13–24, hier S. 15.

19 Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 736f.; aus historischer Perspektive

be-schreibt dieses Phänomen bereits Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. 6. Aufl. Frankfurt am Main 1992, S. 66, der in diesem Zusammenhang auch von „Status-und Prestigekonkurrenz” (S. 117) spricht.

20 Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 195–209.

21 Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am

Main 2001, S. 311.

22 Eckart Conrad Lutz: Literatur der Höfe – Literatur der Führungsgruppen. Zu einer

anderen Akzentuierung. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hrsg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 29–52, hat überzeugend dafür plädiert, bei sozialhistorischen Beschreibun-gen vormoderner Gesellschaftsformen in Bezug auf deren Eliten den flexiblen Begriff

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deutung von Texten tatsächlich bestimmen lässt, soll anhand eines überaus beredten Beispiels aufgezeigt werden.

II. Zwischen Beruf und Berufung: Konrad von Würzburg

Konrad von Würzburg gilt als erfolgreichster Berufsdichter des späten 13. Jahrhunderts.23 Er verfasst zahlreiche Strophen, Lieder sowie geistliche

Dich-tungen, ein für die volkssprachige Literatur paradigmatisches Marienlob, hö-fische Dichtung und einen Trojaroman, der gleichzeitig als Geschichtsbuch und rhetorisches Meisterstück rezipiert worden ist.24 Besonders interessant

ist dieser Autor auch, da für den größten Teil der von ihm überlieferten Werke die Gönner nicht nur in den Prologen genannt, sondern zudem in historischen Quellen nachweisbar sind25: Sie gehören allesamt den Führungsgruppen von

Straßburg und Basel an, haben politische Macht bzw. geistliche Ämter, und sie beauftragen den Dichter mit immer umfangreicheren Werken.26 Das

spie-gelt sich entsprechend im Verdienst wider, denn obschon sich die Honorare oder Vergütungen weder im Einzelnen konkret beziffern noch auch nur prin-zipiell annähernd bestimmen lassen, findet Konrad sein Auskommen und kann sich ein eigenes Haus im Zentrum von Basel leisten.27

23 der „Führungsgruppen” zu verwenden, um jene Vielschichtigkeit zu fassen, welche

durch kategorischen Begriffe wie „Herrscher” oder „Adelige” eher verdunkelt als er-hellt wird.

23 Cf. Horst Brunner: Art. „Konrad von Würzburg”. In: Die deutsche Literatur des

Mit-telalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stammler und Karl Langosch. Berlin 1978–2007. Bd. 5, Sp. 272–304; zuletzt Seraina Plotke: Konzeptualisierungen von Mäzenatentum. Konrad von Würzburg und seine Basler Gönner. In: Mäzenaten im Mittelalter aus europäischer Perspektive. Hrsg. von Bernd Bastert et al. Göttingen 2017, S. 128–148.

24 Zum Trojanerkrieg und seiner Rezeption Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen.

Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg’. Wiesbaden 1996, S. 331f. Neben dem höfischen Liebesroman Partonopier und Meliur gibt es noch das Turnier von Nantes und den Schwanenritter etc.; cf. zur Chronologie Brunner, Konrad (wie Anm. 23), Sp. 273f., und zu den Werken im Einzelnen Hartmut Kokott: Konrad von Würz-burg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie. Stuttgart 1989.

25 Brunner, Konrad (wie Anm. 23), Sp. 274f.; zu den Quellen im Detail Inge Leipold:

Die Auftraggeber und Gönner Konrads von Würzburg. Versuch einer Theorie der „Literatur als soziales Handeln”. Göppingen 1976; zuletzt Plotke, Konzeptualisierun-gen (wie Anm. 23).

26 Cf. Brunner, Konrad (wie Anm. 23), Sp. 273f.

27 Das Haus befand sich in bester Lage, in der Nähe von Ärzten, Domherren und

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Ungeachtet dieser materiellen Grundlage aber scheint sich, so man den textinternen Aussagen des Dichters Glauben schenken möchte, ein rechter Erfolg doch nicht einzustellen: Mehrfach beklagt Konrad in seinen Werken das Desinteresse der Menschen an guter Dichtung. Dabei betont der Berufsdich-ter, der existenziell auf eine entsprechende Nachfrage angewiesen ist, vor allem die Schwierigkeiten, in einer ignoranten, geradezu kunstfeindlich ge-sinnten Zeit noch verständige Rezipienten zu finden.28 Dieser Klage folgt in

seinen umfangreichsten Werken, dem höfischen Liebesroman Partonopier und Meliur29 sowie dem Trojanerkrieg,30 dann jeweils eine zwar

nachvollzieh-bare, dennoch im mittelalterlichen Literaturbetrieb überraschende Lossagung vom Publikumsinteresse, die (offenbar eher aus Trotz denn aus Verzweiflung) auf Selbstgenügsamkeit zurückgeführt wird31:

ze lône und z’einer hôhen gebe mir selben üebe ich mîne kunst. dur waz verbære ich die vernunst, diu dicke und ofte fröuwet mich? ob nieman lepte mêr, denn ich, doch seite ich unde sünge, dur daz mir selben clünge mîn rede und mîner stimme schal. (Troj. 184–191)

(Als Lohn und zu meiner eigenen Freude übe ich meine Kunst aus. Wa-rum sollte ich auf meine Fähigkeiten, die mir so viel Freude bereitet, verzichten? Und wäre ich der letzte Mensch, ich würde weiterhin reden und singen, damit ich mich selbst hören könnte.)

28 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum

Ende des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl. Darmstadt 1992, S. 344–363.

29 Den höfischen Roman Partonopier und Meliur: Partonopier und Meliur. Hrsg. von Karl

Bartsch. Berlin 1970 (Original 1871); (10.342 Verse, unvollendet; im Folgenden PM), verfasst Konrad um 1275 für Peter Schaler, der einer der einflussreichsten Bürger in Basel war und in zahlreichen Urkunden nachweisbar ist. Cf. Brunner, Kon-rad (wie Anm. 23), Sp. 274. Zuletzt Plotke, Konzeptualisierungen (wie Anm. 23).

30 Am Trojanerkrieg: ‚Trojanerkrieg’ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Hrsg.

von Heinz Thoelen. Wiesbaden 2015 (über 40.000 Verse, unvollendet; im Folgenden Troj.), arbeitet Konrad von ca. 1280 bis zu seinem Tod 1289 im Auftrag des Dom-herrn Dietrich an dem Orte. Cf. Brunner, Konrad (wie Anm. 23), Sp. 274. Zuletzt Plotke, Konzeptualisierungen (wie Anm. 23).

31 Zur Interpretation als Trotz Bruno Boesch: Die Kunstanschauung in der

mittelhoch-deutschen Dichtung. Hildesheim 1976 (Original 1936), S. 152, Lienert, Geschichte (wie Anm. 24), S. 19, und Kokott, Konrad (wie Anm. 24). Zum Partonopier und einer dort feststellbaren Kluft zwischen Autor und Publikum in der Stadt cf. Haug, Litera-turtheorie (wie Anm. 28), S. 360.

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Geradezu selbstbewusst proklamiert Konrad hier, dass er, auch wenn sonst niemand seinen Gesang wertschätzen würde, das Singen nicht ließe. Diese beachtenswerte Verabsolutierung der eigenen Kunstausübung, allein um des Vergnügens willen, wird noch verstärkt, wenn Konrad behauptet:

mîn kunst mir selben soll gezemen, wan mir ist sanfte gnouc dâ mite. (Troj. 210f.)

(Meine Kunst soll mir passen, denn damit bin ich wahrlich zufrieden.)

Aufgrund solcher Aussagen, die regelrecht als Prototyp autonomer Kunstvor-stellungen erscheinen, gleichzeitig aber in den umfangreichsten, mithin teu-ersten Werken auftauchen, ergibt sich ein krasser Widerspruch zwischen dem Singen als selbstgenügsamem Lohn in einer Zeit, die für guot getihte (Troj. 29: „gute Gedichte”) bzw. edel sanc (Troj. 145: „vornehme Lieder”) nichts mehr übrighätte, und der offenbaren Förderung des Trojanerkrieges durch den Kantor am Basler Dom, Dietrich an dem Orte.32 Denn explizit wird auf

dessen miltekeite solt (Troj. 252: den „Lohn seiner Großzügigkeit”) aufmerk-sam gemacht. Eine Paradoxie resultiert folglich aus dem Umstand, dass Kon-rad nach dem beklagten Desinteresse jeweils die Gönner seiner überaus um-fangreichen Werke nennt.33

Diese Aussagen haben in ihrer scheinbaren Unvereinbarkeit schon die naheliegende Frage aufgeworfen, ob sie sich nicht durch Vorstellungen von künstlerischer Autonomie auflösen ließen – mit Konrad als einem der ersten Dichter, die nicht mehr das Lied dessen singen würden, dessen Brot sie es-sen.34 Das Publikum würde sich entsprechend im Anschluss an das

selbstbe-wusste Singen für einen Künstler entscheiden – oder auch gegen ihn. Allerdings ist vollkommen ausgeschlossen, dass Konrad seine umfang-reichen Werke ohne finanzielle Förderung überhaupt in Angriff genommen

32 Kokott, Konrad (wie Anm. 24); Lienert, Geschichte (wie Anm. 24).

33 Von Peter Schaler heißt es, dass er mit sîner gebenden hende (PM 188: „mit

Groß-zügigkeit”) wesentlich zur Entstehung des Werkes beigetragen habe.

34 Hartmut Kokott: Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie. Konturen eines neuen

Konrad von Würzburg-Bildes. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 5 (1988/89), S. 69–77; die Formulierung zur Lohndichtung frei nach Michel Beheim: Pfälzische Reimchronik Vers 1485f.: Der furst mich hett in knechtes miet, / ich ass sin brot vnd sang sin liet, zitiert nach Ulrich Müller: Politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Texte. Bd. 2. Göppingen 1974; zu Konrads Autonomie cf. Haug, Litera-turtheorie (wie Anm. 28), S. 357–361; gegen die Vorstellung eines quasi modernen Literaturbetriebs in Straßburg und Basel cf. Ursula Peters: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städ-tischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert. Tübingen 1983, S. 133ff.

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hätte.35 Und auch die Lesart im Hinblick auf eine l’art pour l’art-Konzeption

muss hier deutlich relativiert werden. Zwar sind die Aussagen von der eige-nen Wertschätzung den Texten tatsächlich so inseriert; sie sind dabei jedoch zumeist in den Konjunktiv gesetzt. Faktisch gibt es also genügend Gönner, die Konrads edlen Gesang fördern – und jedes einzelne Werk ist schlagender Beweis dafür.

Die Funktion der Aussagen lässt sich somit nicht ohne Weiteres der Konzeption autonomer Kunst subsumieren, obgleich die eigene Meinung zu-sätzlich noch einmal dadurch verstärkt wird, dass Konrad seinen Trojaroman mit der Frage beginnt, ob man überhaupt noch dichten solle (Troj. 1: Was sol nû sprechen unde sanc?), um dann regelrecht empört zu erläutern:

beide rîche und arme sint an êren worden alsô blint, daz si die wîsen ringe wegent, die wol gebluomter rede pflegent, diu schœne ist unde wæhe. (Troj. 9–13)

(Arme und Reiche sind so ehrlos geworden, dass ihnen [sogar] jene Weisen wertlos scheinen, die eine besonders kunstvolle Sprache pfle-gen.)

Dass Konrad einen weit verbreiteten, Kunst vernichtenden „literarischen Un-verstand” auf Seiten des breiten Publikums beklagt, kann indes nicht als re-signierende Feststellung aufgefasst werden, sondern muss als überaus wirk-same Strategie verstanden werden, den literarischen Verstand seiner Gönner auszuzeichnen.

Und der „literarische Verstand” nimmt nun, um wieder auf den Wert von Dichtung zurückzukommen, Bezug auf ein Prinzip, das für die Erklärung höfischer Literaturförderung überraschend modern und geradezu befremd-lich anmuten mag, geht es doch in dieser distinguierenden Inszenierung sei-nes Publikums ganz offensichtlich um den Geschmack.

35 Allgemein Bumke, Mäzene (wie Anm. 4), S. 9; zu den Kosten der Buchproduktion

noch im 13. Jahrhundert cf. Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhisto-rische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhun-dert. Tübingen 2008, S. 118f.

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III. Die Bewertung höfischer Dichtung a) Die soziologische Theorie: Geschmack

Der Geschmack, auf den in der Praxis so selbstverständlich rekurriert wird, und der in den Geisteswissenschaften vor allem im Bereich der philosophi-schen Ästhetik seinen Platz hat,36 soll hier vornehmlich aus soziologischer

Perspektive betrachtet werden. Bereits Bourdieu hat ja in seiner Kritik der kantischen Ästhetik deutlich machen können, dass es sich nicht eigentlich um eine besondere Verstandeskraft handelt, die das Schöne erkennen und durch intensives Studium zum so genannten „guten Geschmack” entwickelt werden könnte.37 Im Grunde muss der Geschmack jedoch als Vermögen begriffen

werden, (Erkenntnis-)Gegenstände positiv oder negativ bewerten zu können. Was also ursprünglich dem rein Physiologisch-Sensorischen zugeordnet war, dient – wesentlich im Sozialen definiert – inzwischen dazu, habitualisierte Erscheinungsformen wahrzunehmen und selbst zu reproduzieren.38 Im Kern

geht es letztlich darum, die Normen und Werte der relevanten Sozietäten sich anzueignen, um jene Wertungen nachvollziehen und selbst vornehmen zu können, die einerseits Anerkennung einbringen und andererseits die soziale Gruppe strukturieren.39

In der positiven Bewertung ist jedoch ein Äquivalent zu jenem Wohl-gefallen zu sehen, das in der philosophischen Ästhetik, theoretisch von jed-wedem Interesse gereinigt, mit dem Schönen korrespondiert.40 Das

eigent-lich gesellschafteigent-liche Verhältnis des Wohlgefallens aber wird von Kant, wie Bourdieu zeigt, mit der „Ideologie von der Angeborenheit des (guten) Ge-schmacks” geradezu verleugnet.41 Damit unterscheidet sich der Ansatz von 36 Paradigmatisch können wohl die Arbeiten von Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens.

Frankfurt am Main 2003, bes. S. 15–37, oder Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2013, bes. S. 152ff., gelten, die jeweils bei Baumgarten und Kant ihren Ausgang nehmen.

37 Zu dieser Kritik cf. Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 756–767 und passim. 38 Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 734f.

39 Mit der strukturierenden Struktur der Werte und des Kapitals ist nicht nur der Kern

der sozialen Geschmacksfunktion, sondern zugleich jener der Bourdieuschen Theo-rie gefasst, mit der die komplexen sozialen Prozesse und Prinzipien sozialer Diffe-renzierung in ihrer Dynamik beschreibbar werden.

40 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Schriften zur Ästhetik und

Naturphiloso-phie. Bd. 3. Hrsg. Von Manfred Frank und Véronique Zanetti. Frankfurt am Main 1996 (im Folgenden KdU), entwickelt diese Argumentation und sieht das Wohlgefal-len, wenn es weder einem Zweck noch einem Nutzen anhängt (also ein „interesse-loses Wohlgefallen” ist [KdU §§ 1–5]), als Bestimmungsgrund des Schönen.

(12)

Soziologie und philosophischer Ästhetik zunächst wesentlich: Während das Schöne bei Kant zu einem Gegenstand der Epistemologie wird, weil sich das interesselose Wohlgefallen auf ein „freie[s] Spiel[] der Erkenntnisvermögen” (KdU § 9) beziehe, führt Bourdieu das Wohlgefallen, im Sinne von positiven Wertungen, auf die soziale Prägung zurück.42 Der Mensch lernt vornehmlich

von anderen Menschen, wie welche Unterschiede in den sinnlich wahrnehm-baren Erscheinungen der Welt zu bewerten sind. Dabei spielt in der frühkind-lichen Entwicklung das Elternhaus die zentrale Rolle, gefolgt von Freunden, Idolen und den in verschiedenen relevanten Gruppen je als relevant erachte-ten Meinungsmachern.43 In Abhängigkeit von den Ressourcen, über die ein

Akteur verfügt (also der Summe und der [gewerteten] Struktur von materi-ellem, kulturellem und sozialem Kapital), strukturiert sich ein Wertesystem, das einerseits die Orientierung des Subjekts in der Welt ermöglicht – und andererseits (ganz dialektisch) die Position des Subjektes in dieser Welt an-deren Akteuren einsichtig macht, die sich wiederum daran orientieren.44

Der Zusammenhang von sozialen Prozessen und subjektivem Ge-schmack darf somit nicht unidirektional gedacht werden: Es geht nicht nur um die Prägung des Geschmacks im Sozialen, sondern auch – umgekehrt – um die Prägung des Sozialen durch den Geschmack. Was der Geschmack dabei über die Bewertung von Objekten und die Orientierung im Sozialen hinaus noch leistet, ist die Bestimmung relativer Distanzen zu anderen Sub-jekten. Der Geschmack eines Akteurs erlaubt es nämlich, mit dem Ge-schmack anderer zugleich deren Position im Sozialen zu erfassen und wer-tend einzuschätzen. Da der Geschmack unweigerlich in der prägenden Um-gebung definiert wird – so weit, dass Werte, die im Habitus inkorporiert sind, körperliche Empfindungen auslösen45 –, können die Objektivierungen von

Geschmacksurteilen (also verbale Urteile, körperliche Reaktionen und vor al-lem jene Äußerungen, die besonders eng mit Geschmacksurteilen verbunden sind, wie Kleidung, der Sprachstil, Manieren etc.) ihrerseits beurteilt werden. Aus dieser Konstellation ergibt sich folglich die Struktur der Gesell-schaft, in der jeder Akteur die anderen Akteure in entsprechender Distanz zu seinen eigenen Wertvorstellungen wahrnimmt und erlebt. Diese

wechselsei-42 Die Ästhetik, wie Bourdieu Schönheit konsequent bezeichnet, wird damit zu einer

sozialen Kategorie. Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 378–399.

43 Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 398, spricht von den tastemakers, womit

Akteure gemeint sind, die in einer bestimmten Gruppe so viel soziales Kapital akku-muliert haben, dass sie die geltenden Normen und Wertsysteme definieren können.

44 Zur strukturierenden Funktion des Geschmacks in der Gesellschaft Bourdieu,

Unter-schiede (wie Anm. 16), S. 734f.

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tige Wahrnehmung trägt dazu bei, Nähe und Distanz im Sozialen in der je-weiligen Erscheinung des Anderen unmittelbar zu erkennen, da sich jeder Akteur – in Kleidung, Sprache und Verhalten – gerade dann, wenn er ver-meintlich keinem äußeren Zwang, sondern allein dem eigenen Geschmack folgt, in den ihn unmittelbar prägenden sozialen Einstellungen und Werten präsentiert. Anerkennung und Ablehnung zwischen Menschen beruhen von daher zumeist auf der über die Geschmacksurteile und -objektivierungen vermittelten Einsicht in die Distanz zu den Einstellungen und Werten anderer Akteure.

Die enge Verbindung von Geschmacksurteilen und sozialer Position trägt im Übrigen dazu bei, dass ein attestierter schlechter oder gar das Absprechen von jedwedem Geschmack stets heftige Reaktionen provoziert: Der bewertete Akteur nämlich wird – unabhängig davon, welche Position der wertende Akteur faktisch innehat – in der sozialen Hierarchie herabge-setzt.46

Vor dieser Folie nun scheint die Argumentation Konrads in den Prolo-gen seiner Werke unmittelbar einzuleuchten: Die elitären Gönner treten in der Inszenierung als Gebildete mit hervorragendem Urteilsvermögen auf, und jene, die ihn nicht fördern, als Banausen, denen das nötige Urteilsver-mögen abgeht, überhaupt guoten sanc verstehen zu können. Als Strategie ermöglicht diese Inszenierung entsprechend, die Gönner jeweils für die Dich-tung einzunehmen.

Eine Übertragung der soziologischen Geschmackstheorie auf das 13. Jahrhundert bedarf indes einer Begründung. Denn obschon mit der soziolo-gischen Theorie vom Geschmack als einem im Sozialen definierten Orientie-rungssinn problemlos die kulturelle Praxis im Frankreich der 1970er Jahre oder der ideologische Standpunkt der philosophischen Ästhetik seit Kant er-klärt werden kann,47 muss sich die Anwendbarkeit in Bezug auf eine Epoche,

für die bereits Umberto Eco aufgrund der Relation des „Schönen” und „Gu-ten” Zweifel angemeldet hatte „hinsichtlich der Reinheit des mittelalterlichen Geschmacks”,48 erst noch erweisen. Und selbst Braun, der für eine

Annähe-46 Zwar kann man auch etwa materiell höherstehenden Akteuren den Geschmack

ab-sprechen; dann setzt man sie doch immerhin noch gemäß einem alternativen, kul-turellen Wertesystem herab, indem man sich in den Wertungen überlegen fühlt – ohne auf die sozialen Ursprünge auch dieser Werte zu reflektieren.

47 Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16).

48 Umberto Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München 1991, S. 56. Selbst

Bourdieu hat mehrfach darauf hingewiesen, dass seine Modelle nicht auf die Feudal-zeit zu übertragen sind. In ihrer wortgeschichtlichen Arbeit lehnt Uta Frackowiak: Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacksbegriffs. München

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rung an die fremde Schönheit des Mittelalters die Verwendung soziologischer Modelle vorschlägt, sieht diese lediglich als (mögliche) Opposition zur histo-risch als geltend anerkannten Metaphysik.49 Hinzu kommt ferner, dass eine

Hürde für sozialhistorische Untersuchungen von Geschmacksurteilen einer-seits schon allein darin gesehen werden muss, dass sich vor dem 16. Jahr-hundert keine Zeugnisse finden lassen, in denen subjektive Werturteile be-züglich der so genannten „schönen Künste” ausgedrückt sind.50 Und

ande-rerseits kommt der Begriff „Geschmack” (mhd. gesmac) selbst in der höfi-schen Dichtung, in der Tanz, Gesang, Dichtung und kostbare Gegenstände dargestellt und sogar beurteilt werden, nicht im Sinne der philosophischen Ästhetik vor.51

Die Bedeutung differenzierten Urteilens und Wertens wird jedoch durchaus verhandelt. Sie lässt sich allerdings, wie die folgenden Abschnitte zeigen sollen, weder als autonomer Diskurs ausmachen noch von der ästhe-tischen Theorie her begreifen, da diese in einem ganz bestimmten, historisch bedingten Verhältnis zu ihrem Gegenstand steht. Von daher soll die soziolo-gische Theorie vom Geschmack zunächst heuristisch auf das Mittelalter be-zogen werden, da sie, das war bereits im Hinblick auf die philosophische Ästhetik Kants zu sehen, die theoretische Reflexion der Urteilskraft prinzipiell identifizieren und gleichzeitig in ihrem spezifischen Verhältnis zur Praxis des Urteilens erkennen und beschreiben kann. Der Zugriff auf die Urteilskraft, die mit dem Begriff „Geschmack” in ihrer sinnlichen wie sozialen Dimension überaus präzise erfasst ist,52 erfolgt somit von einer Position aus, die –

an-49 1994, S. 11 mit Anm. 27, ebenfalls soziologische Modelle zur Untersuchung des

Mittelalters ab. Gewinnbringend aber konnte bereits Schmitz, Das Ornamentale (wie Anm. 12), Bourdieus Theorie auf das Mittelalter beziehen.

49 Braun, Kristallworte (wie Anm. 1), S. 24.

50 Als Ursprung einer nicht mehr metaphysischen Auseinandersetzung mit Kunst wird

in der Regel der El Discreto von Baltasar Gracián (1646) angesehen. Cf. Hellmut Jansen: Die Grundbegriffe des Baltasar Gracian, Köln 1958.

51 Im Mittelhochdeutschen ist die Semantik von gesmac überhaupt noch eher mit dem

Geruch verbunden. Das zeigt ein Blick in die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB): http://mhdbdb.sbg.ac.at/index.html (letzter Zugriff 13.12.2019). Cf. Matthias Lexer: Art. „gesmac”. In: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von dems. Hirzel 1979 (Original 1872), und Frackowiak, Geschmack (wie Anm. 48), S. 15.

52 Die Verwendung des Geschmacksbegriffs mag somit anachronistisch erscheinen, da

sich im Mittelalter kein terminologisches Äquivalent zur sinnlichen Urteilskraft bzw. zur Ästhetik im Wortsinne (von griech. aísthesis für „Wahrnehmung”, „Empfindung”) nachweisen lässt. Cf. dazu M[onika] Fick: Art. „Geschmack”. In: Historisches Wör-terbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1996. Bd. 3, Sp. 870–901, hier Sp. 874. Der Gewinn ist jedoch in der präzisen Benennung einer komplexen

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ders als die je historischen Theorien selbst – zwischen sozialer Praxis und deren theoretischer Reflexion differenzieren kann.

b) Die historische Theorie: iudicium

Im soziologischen Zugriff auf die höfische Kultur zeigt sich dann, dass die Bedeutung differenzierter Urteilskraft, vor allem im Zusammenhang mit Kunst und Schönheit, bereits in Antike und Mittelalter intensiv diskutiert wird. Die Diskussion findet jedoch in einem Kontext statt, der zunächst befremdlich erscheint, nämlich im Rahmen der antiken Musiktheorie (ars musica), jenem Fach der septem artes liberales, welches als Übergang von den sprachlichen zu den mathematischen Fächer fungieren bzw. das Studium von den sprach-lichen über die mathematischen Fächer zur Theologie weiterführen kann.53

Dabei geht es vorrangig um die Verhandlung von Konzepten, die etwa in pythagoreischen und platonischen Gedanken einer zahlentheoretisch fun-dierten Ordnung des Kosmos greifbar werden.54 Entscheidend ist jedoch,

dass diese Konzepte in den Schriften z.B. von Augustinus oder Boethius christlich überformt und im Mittelalter extrem relevant werden.55

Vorder-gründig geht es um reine Zahlenverhältnisse, um Proportionen oder numeri,

53 Praxis zu sehen, die in ihrer praktischen wie theoretischen Dimension beschreibbar

wird.

53 Zur Einführung Achim Diehr: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung.

Berlin 2004; zur Bedeutung Max Haas: Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung. Bern ²2007, und Michael Bernhard: Überlieferung und Fortleben der antiken lateinischen Musiktheorie im Mittelalter. In: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter. Hrsg. von dems. et al. Darmstadt 1990, S. 7–35.

54 Zur Tradition Johannes Lohmann: Musiké und Logos. Aufsätze zur griechischen

Phi-losophie und Musiktheorie. Zum 75. Geburtstag Johannes Lohmanns am 9. Juli 1970. Hrsg. von Anastasios Giannarás. Stuttgart 1970, oder Musik – und die Ge-schichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittelalter. Fragen zur Wech-selwirkung von ‚musica’ und ‚philosophia’ im Mittelalter. Hrsg. von Frank Hentschel. Leiden 1998. Konkret lässt sich die Musikvorstellung auf die Stellen in Platon, Der Staat (Politik), in: Sämtliche Werke, Bd. 5. Hrsg. von Otto Apelt. Leipzig 1919f., bes. 401d-402a, und vor allem Timaios, in: Sämtliche Werke, Bd. 6. Hrsg. von Otto Apelt. Leipzig 1919f., bes. 36d-38b, zurückführen, der dem Mittelalter als Kommentar des Calcidius vorlag.

55 Augustinus: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur

metaphysi-schen Erkenntnis, hg. und übers. von Frank Hentschel, Hamburg 2002. Cf. Adalbert Keller: Aurelius Augustinus und die Musik. Untersuchungen zu „De musica” im Kon-text seines Schrifttums. Würzburg 1993, sowie Karel Svoboda: L’esthétique de Saint Augustin et ses sources. Brno 1933; allgemein Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. Bern 1962, S. 120f.

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die in ihrer unveränderlichen Rationalität – wenigstens in pythagoreischen und platonischen Theorien – als ewige Wahrheiten, als Grundlage der göttlich geordneten Welt und als Ursache für Schönheit gelten.56 Damit kommt ihnen

letztlich eine enorme Bedeutung für ein umfassendes (durchaus praktisches) Weltverständnis zu.57 Dass solche Zusammenhänge im Rahmen der ars

mu-sica diskutiert werden, liegt dabei an der mathematisch nachvollziehbaren Perfektion musikalisch konsonanter Intervalle: Da die Oktave als das ratio-nale Verhältnis von 2 : 1 begriffen und zugleich als Konsonanz erlebt werden kann,58 wird Schönheit generell auf Harmonien und Proportionen

zurückge-führt.59 Bestätigt wird diese Vorstellung durch die Omnipräsenz von

rationa-len Verhältnissen im Schönen. Neben der Musik finden sich diese auch in bildlichen Darstellungen, in geometrischen Figuren oder im Lauf der Plane-ten, im Wechsel der Jahreszeiten sowie im Rhythmus der Sprache und im Pulsschlag des Menschen.60

Über die zahlhaft vorgestellte Ordnung werden folglich Mikro- und Makrokosmos direkt aufeinander beziehbar; und in der zahlhaften Ähnlich-keit von göttlicher Schöpfung und göttlichem Geschöpf, besonders aber in der von Leib und Seele,61 wird letztlich die Ursache der (Empfindung von)

56 Boethius [Anicius Manilus Severinus]: De institutione musica. Traité de la musique.

Hrsg. und (ins Französische) übersetzt von Christian Meyer, Turnhout 2004. Dazu Anja Heilmann: Boethius’ Musiktheorie und das Quadrivium. Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von „De institutione musica”. Göttingen 2007.

56 Hentschel, Musik (wie Anm. 54).

57 Cf. Haas, Denken (wie Anm. 53); am Beispiel von Boethius cf. Heilmann, Boethius

(wie Anm. 55).

58 Neben der Oktave (2 : 1) können auch die Quinte (3 : 2) und die Quarte (4 : 3) als

ganzzahlige, rationale Verhältnisse dargestellt werden. Damit bilden diese Intervalle nicht nur den Grundstock mittelalterlicher Harmonik, sondern auch eine geschlos-sene Konzeptualisierung, die seit Pythagoras als Tetraktys bekannt ist. Cf. dazu Heil-mann, Boethius (wie Anm. 55), S. 230–242.

59 Eco, Kunst (wie Anm. 48), S. 51–55; cf. dazu Boethius, De institutione musica I.I,

dem es um jene Proportionen (proportionibus) geht, die alles in harmonischen Ma-ßen verbinden und vereinen (armonicas modulationes […] coniungi copularique).

60 Cf. Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1982, S. 93: Die

sinnlich wahrnehmbaren Formen sind Ausdruck der „objektive[n] Harmonie des Ge-schaffenen, die wir Gott, dem höchsten Musiker, verdanken”.

61 Boethius betont die umfassende Macht der Musik (musica): Quid est enim quod illam

incorpoream rationis vivacitatem corpori misceat, nisi quaedam coaptatio et veluti gravium leviumque vocum quasi unam consonantiam efficiens temperatio? (De ins-titutione musica I.II: „Was (sonst) mischt die immaterielle Lebendigkeit des Verstan-des mit dem Körper, wenn nicht eine gewisse Harmonie und ein gewisses Verhältnis bewirkende Konsonanz aus hohen und tiefen Tönen?”)

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Schönheit gesehen. Von daher – das ist Konsens in den Traktaten der ars musica – berührt die klingende Musik den in die Ordnung des Kosmos ein-gebundenen, gleichfalls zahlhaft strukturierten Menschen so unmittelbar;62

und weil die Konsonanzen als überaus angenehm und schön erlebt werden, gilt die akustisch manifestierte Musik (in Form ihrer rational darstellbaren Proportionen) als Abbild der umfassenden kosmischen Ordnung, als eigent-liche Bedeutung des Angenehmen und regelrechte Offenbarung götteigent-licher Wahrheiten.

Diese Theorie könnte man nun als reine metaphysische Spekulation abtun, als bloß intellektuelles Gedankenspiel;63 doch was hier anhand der

klingenden Musik verhandelt wird, hat Konsequenzen, die weit über musika-lische Phänomene im engeren Sinne hinausweisen. Zahlen und Proportionen nämlich werden nicht nur als Grundlage für die Schönheit angenommen, son-dern in gleicher Konsequenz gilt, dass nur wirklich schön ist, was zahlhaft und rational begründbar ist.64 Sinnliche und rationale Aspekte sowohl der Zahl als

auch der Schönheit fallen in der Musik somit geradezu sinnfällig in eins. Den-noch übersteigen diese Aspekte, als umfassende Prinzipien, das Musikalisch-Klingende bei Weitem, geht es doch im Grunde um einen rationalen Zugang zum Göttlichen, das hinter der perfekten Schönheit liege.

Die Perfektion erweist sich indes als ambivalent, da die extreme, sinn-liche Wirkung der Schönheit den schwachen Menschen von den rationalen Aspekten ablenken kann.65 Um die zahlhaften, die eigentlich wichtigen

gött-lichen Wahrheiten in der sinnlich erfahrbaren Schönheit erkennen zu können, braucht es bei der rezeptiven Auseinandersetzung damit gewisse Vorkehrun-gen. Auf der einen Seite ist das die ratio, die urteilende Verstandeskraft bzw.

62 Es geht um die Korrespondenz des Kosmos mit dem Menschen und des

Sinnlich-Körperlichen mit der Seele; cf. Boethius, De institutione musica I.II.

63 In diesem Sinne Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches

Mittel-alter. 4. Aufl. Bern 1963, S. 231 mit Anm. 1, Edgar DeBruyne: Etudes d’esthétique médiévale, 2 Bde. 2. Aufl. Paris 1998, pass., und noch Eco, Kunst (wie Anm. 48), S. 51f.

64 Die Umkehrung wird greifbar in der Restriktion musikalischer Intervalle: In England

etwa wurden Terzen und Sechsten bis in das 14. Jahrhundert, in Frankreich und Deutschland noch deutlich länger, als imperfekte Klänge aus der Kirchenmusik (das heißt aus der Verwendung für zentrale Zusammenklänge) ausgeschlossen – obwohl sie de facto nicht schlecht klingen. Ihre irrationalen Proportionen indes sprachen gegen eine Verwendung im geistlichen Bereich.

65 Augustinus, De musica VI.IX.23, etwa sieht einen Unterschied darin, delectari sensu

et aestimare ratione („mittels Sinnesvermögen zu genießen und mittels Vernunft zu bewerten”). Dazu Boethius: De institutione musica I.If. und XXXIIII.

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„das Göttliche und Beste in der Welt”.66 Ohne Verstand nämlich können die

rationalen Aspekte nicht erkannt werden, da die Sinne (die aufgrund ihrer gleichfalls göttlichen Ordnung für Angenehmes überaus empfänglich sind) auf einer niedrigeren, vom Körperlichen korrumpierten Stufe urteilen wür-den. Der wahrhafte Kenner wird in diesem Sinne bei Boethius z.B. als Musi-cus begriffen,

qui, ratione perpensa, canendi scientiam, non servitio operis, sed impe-rio speculationis assumit.

(De institutione musica I.I)

([…] der, sich auf den Verstand stützend, die Wissenschaft vom Gesang nicht praktisch anwendet, sondern in das Königreich der Theorie führt.) Erst das rationale Urteil, das iudicium, erlaube es, von mangelhaften, sinnli-chen Eindrücken zu abstrahieren und die Erscheinungen in ihrem wahren Wert erkennen zu können:

Isque musicus est cui adest facultas secundum speculationem ratio-nemve propositam ac musicae convenientem […] ac de poetarum car-minibus, judicandi.

(De institutione musica I.XXXIV)

(Musicus also ist der, der seine Fähigkeit nach der Theorie und dem Ver-stand einsetzt, um die Musik […] oder Gedichte zu beurteilen.)

Genau dafür aber, das ist der eigentliche Kern, brauche der Mensch auf der anderen Seite Tugenden. Da die Wirkung des sinnlich Wahrnehmbaren auf die Sinne oft einfach nur wider besseres Wissen als angenehm empfunden und unbedarft genossen wird, würden Tugenden dazu beitragen, nicht bloß sinnlichem Genuss sich hinzugeben, sondern zunächst Wahrgenommenes, im moralischen iudicium, auf Angemessenheit hin überprüfen zu können. Da-für stellt Augustinus die Autorität dar,67 denn Boethius führt diesen Gedanken

in seinem Fragment gebliebenen Werk nicht mehr aus.68

66 K[arl] Bormann: Art. „Ratio”. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 459f., hier Sp.

459. Cf. Augustinus, De musica VI.X.25, wo es um vim potentiamque rationis geht („Fähigkeit und Vermögen der Vernunft”).

67 Cf. dazu das Folgende und Augustinus, De musica, I.III.4; besonders deutlich aber

wird der größere Zusammenhang im sechsten Buch, wo es um die Bedeutung der Tugenden geht. Cf. De musica, VI.XIII-XVII, und Hentschel, De musica (wie Anm. 55), S. XXVIff.

68 Zwar weist er explizit darauf hin, dass die musica eine ethische Relevanz habe, denn

die Musiktheorie ist – aufgrund der Zahlhaftigkeit der musica, die sich mit den Sin-nen nicht präzise erfassen lasse – nicht nur spekulative Theorie, sondern wesentlich mit Moral verbunden (Boethius, De institutione musica I.I: musica vero non modo

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Ganz knapp wird der Aspekt bereits in der am Beginn von De musica (ca. 435–460) erarbeiteten Definition der musica als scientia bene modulandi (De musica I.II.2: „Wissenschaft vom richtigen Abmessen”) erwähnt: Das kleine Wörtchen bene, keineswegs ein „voreilig von Augustinus in die Defini-tion der Musiktheorie aufgenommenes Wort”,69 wird hier zunächst als Wissen

vom kontextabhängigen Musizieren einsichtig, denn es zieme sich nicht, bei einem Anlass, der Ernsthaftigkeit verlangt (De musica I.III.4: severitatem desiderat), ausgelassen aufzuspielen; gleichzeitig aber wird mit der Reflexion der ethischen Dimension in der grundlegenden Definition bereits der moral-theologische Diskurs im sechsten Buch antizipiert, in welchem – unter Ver-wendung zahlreicher Bibelzitate – die Bedeutung der Musik für die Tugenden sowie die der Tugenden für die Musik dargelegt wird.

Entsprechend stellt sich für Augustinus der gewissenhafte Umgang mit der klingenden Musik als sehr geregelt dar, denn:

[Magni viri] post magnas curas relaxandi ac reparandi animi gratia mo-deratissime ab iis aliquid voluptatis assumitur. Quam interdum sic ca-pere modestissimum est, ab ea vero capi vel interdum turpe atque in-decorum est.

(De musica I.IV.5)

(Große Männer genießen nach drückenden Sorgen um der Erholung und seelischen Entspannung willen sehr besonnen ein wenig sinnliche Freude. So zuweilen auf Musik zurückzugreifen ist sehr besonnen, von ihr aber ergriffen zu werden, und sei es nur zuweilen, ist schändlich und unrühmlich.)

Erst wenn sich der tugendhafte Mensch der unmittelbaren Wirkung entzieht und versteht, warum etwas gefällt (wenn er mit dem Verstand urteilt, nicht mit den Sinnen), kann er die göttliche Wahrheit rational erkennen. Das ist der eklatante Unterschied zwischen theoretisch versiertem Musiktheoretiker und

69 speculationi: verum etiam moralitati coniuncta sit); es ist anzunehmen, dass

Boe-thius, der einen eher auf das Irdische ausgerichteten Ansatz in der Nachfolge von Platons Staatsphilosophie verfolgt, seine Argumentation am Ende wieder stärker auf den ethischen Aspekt zurückgeführt hätte. Cf. Heilmann, Boethius (wie Anm. 55); zum fragmentarischen Charakter Meyer, De institutione musica (wie Anm. 55), S. 35 mit Anm. 22.

69 Hentschel, De musica (wie Anm. 55), S. XIII, verkennt mit dieser Äußerung

einer-seits die Bedeutung der moralischen Argumentation im sechsten Buch von De mu-sica, und andererseits den traditionellen Kontext der Definition, die wohl auf den verlorenen Musiktraktat von Varro (2. Jh.) zurückgeht; cf. Hentschel, De musica (wie Anm. 55), S. 178 mit Anm. 8, und Günther Wille: Musica romana. Die Bedeu-tung der Musik im Leben der Römer. Amsterdam 1967, S. 594, sowie Keller, Augus-tinus (wie Anm. 55), S. 79f. und 285–291.

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„bloß” ausübendem Musiker. Boethius betont diesen Unterschied entspre-chend stark in seiner Theorie,70 Augustinus entwickelt ihn im Bild vom

christ-lichen Wissenschaftler, dem der nachtigallengleiche Praktiker gegenüber-steht,71 und (Ps.-)Guido von Arezzo im 11. Jahrhundert fasst ihn überaus

drastisch in folgende Verse:

Musicorum et cantorum magna est distantia: Isti dicunt, illi sciunt, quae componit musica. Nam qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia. (Regule rithmice 1–372)

(Zwischen Musici und Cantores besteht ein großer Unterschied: / Diese singen [nur], jene [aber] wissen [zugleich], was die Musica beinhaltet. / Wer aber ohne zu wissen handelt, wird als Tier bezeichnet.)

c) Die historische Praxis: bescheidenheit

Vor diesem Hintergrund sind folglich die Inszenierungen von Gönnern und Publikum auch in der höfischen Dichtung zu lesen. Konrad etwa attestiert in seinem Partonopier einem zunächst idealen, potentiellen Publikum eine be-sondere Tugendhaftigkeit, welche es ermögliche, wahrhaft schöne Dichtung wertzuschätzen:

sô vindet man die liute noch, die durch ir tugenden rîchen sin

70 Boethius, De institutione musica I.XXXIIII (Quid sit musicus): Boethius entwirft hier

eine Dreiteilung der an musica beteiligten Protagonisten. Die Instrumentalisten ste-hen dabei ganz unten, da sie gänzlich aus dem wissenschaftlicste-hen Bereich der musica ausgeschlossen seien, derer sie sich in ihrem Tun nicht eigentlich bedienen würden (a musicae scientiae intellectu seiuncti sunt, quoniam famulantur ut dictum est nec quic-quam afferunt rationis, sed sunt totius speculationis expertes). Es folgen die Dichter, die vom Instinkt geleitet Lieder komponieren (genus poetarum est quod non potius speculatione ac ratione quam naturali quodam fertur ad carmen), doch der Fokus liegt eindeutig auf dem Musicus, der alles wahrhaft beurteilen kann (cui adest facultas secundum speculationem rationemve propositam ac musicae convenientem).

71 Augustinus, De musica I.IV.5: nonne tales tibi omnes videntur, qualis illa luscinia est,

qui sensu quodam ducti bene canunt, hoc est numerose id faciunt ac suaviter, quam-vis interrogati de ipsis numeris, vel de intervallis acutarum graviumque vocum, re-spondere non possint? („Scheinen die nicht all jene ebenso beschaffen zu sein wie diese Nachtigall, die zwar von einem gewissen Instinkt geleitet richtig singen, dies also zahlhaft und schön tun, die aber, wenn sie nach diesen Rhythmen oder den aus hohen und tiefen Tönen gebildeten Intervallen gefragt werden, gleichwohl nicht ant-worten können?”).

72 Guido d’Arezzo’s Regule Rithmice, Prologus in Antiphonarium, and Epistola ad

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niht werfent guot getihte hin, swâ man ez singet oder seit; ez hât noch maneger edelkeit und alsô reines herzen gir daz er sîn ôre neiget mir, swenn ich entsluize mînen list. (PM 160–7)

(So findet man noch immer Leute, die durch ihren an Tugenden reichen Verstand gute Dichtung nicht verachten; es gibt noch ausreichend Edel-mütige mit unverfälschtem Herzenswunsch, die mir zuhören, wenn ich meine Kunst darbiete.)

Damit zeigt sich, dass der Fokus auch hier – analog zur Argumentation im Rahmen der ars musica – auf die Wahrnehmung gerichtet wird: Die tatsäch-liche Qualität der Dichtung sei nur für diejenigen erkennbar, die nicht genie-ßen, sondern nach quasi wissenschaftlichen Kriterien urteilen und sich im tugendhaften Urteil als bescheiden erweisen, d.h. als klug, verständig und gebildet (cf. PM 2, Troj. 14373). Überhaupt wird allen Rezipienten, die

Kon-rads Dichtung goutieren, vom Autor selbst eine entsprechende Urteilsfähig-keit bezüglich der wahren Schönheit attestiert, auch wenn diese zumeist ex negativo verhandelt wird. So schimpft Konrad wesentlich engagierter über die wilden junges muotes, die

an der bescheidenheite sint sô toup und alsô rehte blint, daz guotiu rede und edel sanc si dunket leider alze kranc, swie si doch sîn ein künstic hort. diu swachen schemelichen wort von künstelôsen tôren

baz hellent in ir ôren,

dann edele sprüche tugentsam. (Troj. 142–51)

(Die unruhigen jungen Leute sind in Bezug auf ihr Urteilsvermögen so mit Blindheit geschlagen, dass ihnen gute Gedichte und edler Sang un-wert erscheinen, obwohl sie doch einen klugen Schatz darstellen. Die schmählichen Worte unverständiger Narren klingen in ihren Ohren bes-ser als moralisch vollkommene Dichtung.)

Die mit dieser bösen Charakterisierung der Ignoranten einhergehende Auf-wertung der verständigen Rezipienten und Gönner als bescheiden hat nun

73 Cf. Lexer (wie Anm. 51): Art. „bescheiden” bzw. „bescheidenheit” mit der Bedeutung

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eine besondere, historisch spezifische Bedeutung für das Ansehen der Letz-teren. Für Machthaber, die in der stratifizierten Feudalgesellschaft allein auf-grund ihrer Geburt an zentrale Positionen gelangen, kann bereits die Vorstel-lung einer im Sinne der musica profilierten bescheidenheit zur Legitimation des Handelns beitragen. In sozialhistorischer Perspektive zeigt sich nämlich, dass die Befugnisse der Adeligen durch den Bezug zur auszeichnend-ausge-zeichneten Urteilsfähigkeit extrem an Legitimität gewinnen können, geht es doch (theoretisch zumindest) darum, in der rationalen Bewertung des Schö-nen die göttliche Ordnung zu erkenSchö-nen und zur Grundlage des irdischen Handelns zu machen.74 Erscheint der Adlige folglich als jemand, der

nach-weislich so tugendhaft ist, dass er mit seinen Verstandeskräften Angemes-senes erkennen kann, setzt er sich und sein Handeln in einen direkten Bezug zu dieser göttlichen Ordnung. Dadurch kann der faktische Geburts- in einen regelrechten Tugendadel umgewandelt werden75: Ein Akteur kann sein

Han-deln somit auf seine überlegene Moral gründen; und seine Macht erhält dann durch die bescheidenheit eine wesentliche, im theozentrischen Weltbild ver-ankerte Legitimität.76 Während die mit der Geburt verbundenen Rechte der

Adligen zumeist in bloßen Gewohnheiten gegründet sind,77 lässt sich die

faktische Handlungsfähigkeit durch einen Bezug zu Tugend und Moral quasi begründen und gegenüber der Gewohnheit als besser durchsetzen. Der Ade-lige, der sein Handeln als tugendhaft erscheinen lassen kann, hat nicht nur Gott auf seiner Seite, sondern eine deutlich überzeugendere Argumenta-tion.78

Die höfische Dichtung kann mit der Inszenierung des Publikums als bewusst wahrnehmende musici, deren Urteil auf Verstand (ratio) und Mo-ral (moMo-ralitas) basiert,79 das Handeln legitimieren und bereits den

Um-74 Lutz, Literatur (wie Anm. 22), S. 38, zu ähnlichen Legitimationsstrategien am

Be-spiel des Helmhauser Evangeliars Heinrichs des Löwen; dazu Gerhard Lubich: ‚Tu-gendadel’. Überlegungen zur Verortung, Entwicklung und Entstehung ethischer Herrschaftsnormen der Stauferzeit. In: Rittertum und höfische Kultur der Staufer-zeit. Hrsg. von Johannes Laudage und Yvonne Leiverkus. Köln 2006, S. 247–289.

75 Zu den Bedingungen des Wandels Lubich, Tugendadel (wie Anm. 74), S. 251–261. 76 Lubich, Tugendadel (wie Anm. 74), S. 268–272; dazu Jaeger, Entstehung (wie Anm.

13), S. 180–211.

77 Cf. Otto Brunner: Bemerkungen zu den Begriffen ‚Herrschaft’ und ‚Legitimität’. In:

Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1980, S. 49– 102, S. 75.

78 Jaeger, Entstehung (wie Anm. 13). S. 284ff., und Lubich, Tugendadel (wie Anm.

74); dazu Gisselbaek, Kunst (wie Anm. 8).

79 Im Mittelhochdeutschen wird für den Verstandesbereich sin u.ä. benutzt (cf. Jost

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gang mit Dichtung als Ausweis der entsprechenden Kompetenzen darstel-len.80

IV. iudicium und guter Geschmack

Dort allerdings, wo die Inszenierung des Publikums als ethisch-rational ur-teilsfähige Rezipienten auf die Praxis zurückfällt, wird das im Text vornehm-lich semantisch vermittelte Konzept prekär: Die einem Gedicht inserierte Aussage, dass der Gönner tugendhaft sei, kann im Grunde jeder für sich in Anspruch nehmen, der über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, einen Dichter für genau diese Aussage zu bezahlen – unabhängig von seiner fakti-schen Moral.81 Ohne praktischen Bezug zu einer besonderen Urteilskraft

bliebe die Aussage somit wertlos.

Für eine quasi performative Aktualisierung der Inszenierung könnte indes der Geschmack tatsächlich zum Tragen kommen: Die Tugendhaften ließen sich mit Leuten von „gutem Geschmack” gleichsetzen, deren Urteil sowohl in der Theorie (ars musica) als auch in der Praxis (Machtelite) ande-ren Urteilen gegenüber als „besser” erscheint; Konrad würde mit seinen Aussagen jenen, denen seine Dichtung gefällt, entsprechend das iudicium attestieren, und sie so von den vermeintlichen Ignoranten abgrenzen. Das hätte zwar die praktische Voraussetzung, dass seine Gönner in der Gesell-schaft als „gut” anerkannt sein müssen; doch wäre diese Bedingung da-durch schon erfüllbar, dass sie faktisch zu den Mächtigsten zählen – zumin-dest in Straßburg und Basel. Damit hätte ihr Urteil, das als iudicium erschei-nen könnte, im Grunde die gleiche soziale Funktion wie der „gute Ge-schmack”: Es ginge darum, automatisch all jene herabzusetzen, die nicht in der Lage sind, Konrads höfische Dichtung so einfach zu beurteilen, wie die höfisch sozialisierten Akteure innerhalb der elitären Führungsgruppen, für die Konrad dichtet.82

80 zum Beginn des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1973 [Original 1931]; zur ratio

Bor-mann, Ratio [wie Anm. 66]), für Moral tugent.

80 In dieser Aussage könnte ein wesentlicher Grund für die Förderung von Dichtern und

Dichtung gesehen werden, die sonst durch (den wenig sichtbaren) Materialwert oder (schnell überinterpretierte) inhaltliche Aspekte begründet wird. Damit gegen Bumke, Mäzene (wie Anm. 11), oder Fried, Mäzenatentum (wie Anm. 6).

81 Bisherige Mäzenatenforschung sieht das Interesse an Dichtung nicht zuletzt in der

schlichten Möglichkeit begründet, finanzieller Macht Ausdruck zu verleihen, ohne die formale Beliebigkeit in Rechnung zu stellen. Cf. besonders Fried, Mäzenatentum (wie Anm. 6).

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In der Betrachtung der soziologischen Funktion der ars musica als Theorie zeigt sich allerdings ein eklatanter Unterschied zur Ideologie der (philosophischen) Ästhetik und ihrem Bezug zum „guten Geschmack”, denn iudicium und guter Geschmack sind nicht uneingeschränkt identisch. Zwar unterscheidet sich das iudicium funktional kaum vom guten Geschmack, in der Genese hingegen zeigen sich wesentliche Differenzen: Während es näm-lich beim guten Geschmack um den Erwerb von Wertsystemen geht, die von den Mächtigsten und ihren faktischen Möglichkeiten definiert werden, hängt das iudicium an rational begründeten Wissensbeständen.83 Als wahrhaft

schön gilt ja gemäß der historischen Theorie von der Schönheit nur, was ra-tional begründbar ist. Die Praxis muss sich entsprechend um gültige Aktuali-sierungen der wahren Schönheit bemühen, weshalb das iudicium dann auch in gewisser Weise von jenen gesellschaftlichen Prozessen abstrahiert ist, in welche der gute Geschmack – der jeweils von den Eliten bestimmt wird – so unweigerlich eingebunden ist. Da Schönheit und Wohlgefallen in der Wissen-schaft rational bestimmt werden, orientieren sich die geltenden Normen- und Wertsysteme an jenen, die gesellschaftlich dazu anerkannt sind, über diese Aspekte zu urteilen – namentlich die Gebildeten, die (vermeintlich) durch ihre Studien logisch-rational aufzeigen können, was Rechtens ist.84

In der Praxis geht es allerdings wohl doch zumeist darum, wer über wie viele und welche Wissensbestände verfügt, denn als kulturelles Kapital fließt noch das abstrakteste Wissen wieder ein in die Prozesse sozialer Macht-demonstration, strukturiert den Geschmack ganz wesentlich und fällt letztlich sogar in jene Logik des sozialen Agons zurück, der durch den Bezug zur Ethik gerade aufgehoben werden sollte.85

83 Ideologie und der soziologischen Darstellung der faktischen Zusammenhänge cf.

Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 768–773.

83 Gisselbaek, Kunst (wie Anm. 8).

84 Hier geht es also neben den konkreten Wissensbeständen um soziale Prozesse der

Legitimation, mittels derer jenen Akteuren das Recht zugesprochen werden kann, anerkannt Entscheidungen bezüglich von Rechtmäßigkeiten zu treffen. Cf. Bourdieu, Meditationen (wie Anm. 21), S. 311.

85 Nach Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 16), S. 125–161, wird Wissen (als

kulturel-les Kapital) Macht bzw. in Machtprozesse integriert. In historischer, deutlich mate-rialistischerer Perspektive Martin Kintzinger: Wissen wird Macht. Bildung im Mittel-alter. Ostfildern 2003. Es muss indes darauf hingewiesen werden, dass die Macht-haber nicht zwingend ihre eigenen intellektuellen Kompetenzen zur Schau stellen mussten, sondern auf Berater zurückgreifen konnten. Cf. dazu Gerd Althoff: Ver-wandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbildung im frühen Mittelalter. Darmstadt 1990, S. 13–17 sowie 186–195. Allerdings fallen letzt-lich auch Auswahl und Akzeptanz von Beratern auf den Mächtigen zurück.

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V. Schluss: Die höfische Kultur – eine Frage des ethischen Ge-schmacks

Die skizzierten Zusammenhänge von der allgemeinen Urteilskraft (dem sozial wirksamen Geschmack), den historischen Vorstellungen einer ethisch-ratio-nalen Urteilsfähigkeit (iudicium bzw. bescheidenheit) und dem, was letztlich faktisch im Sozialen als „schön” bewertet wird (der höfischen Dichtung z.B.), weisen letztlich über bloße theoretische Entwürfe bzw. soziologische Modelle hinaus und sind wesentlich auch für das Verständnis historischer Prozesse und ihrer formalen Gestalt. Die höfische Kultur etwa lässt sich durch die Fun-dierung des iudicium in spezifischen Wissensbeständen tatsächlich als eine vom Alltäglichen differenzierte Sphäre verstehen. Die Verbindung des sozia-len Handelns mit anerkanntem Wissen sorgt dafür, dass sich die höfische Kultur dem Göttlichen annähert und ihre Geltung durch einen in den Ge-schmacksurteilen reproduzierten, distinguierenden Bezug zu Tugenden und abstrakten Theorien erhält.86

Und von dort her müssen letztlich die mäzenatischen Bemühungen verstanden werden: Es geht nie nur um funktionale Abgrenzungen, ostenta-tive Zurschaustellungen von Reichtum oder symbolische Bezüge der Aus-drucksformen zu idealen Leitvorstellungen, auf die mit den geförderten Ob-jekten verwiesen wäre.87 Vielmehr wird deutlich, dass die höfische Kultur auf

einer im Grunde so wesentlichen wie dynamischen Binnendifferenzierung des

86 Die höfische Kultur kann somit in ihrer Eigenlogik verstanden werden und muss nicht

mehr nur als Differenzphänomen aufgefasst werden. Cf. in diesem Sinne bereits Christian Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann. Kassel 2004, S. 169ff.

87 Paradigmatisch Hedda Ragotzky und Horst Wenzel: Einleitung. In: Höfische

Reprä-sentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von dens. Tübingen 1990, S. 1– 15, besonders S. 7f. Das große Problem für eine rein materiell argumentierende Erklärung mäzenatischer Prozesse ergibt sich indes schon aus dem gabentheoreti-schen Dilemma von Gabe und Gegengabe, das einen Machthaber stets in Zugzwang bringt und seine Macht unterminieren kann, da er durch jede beliebige Darbietung zu einer Gegengabe verpflichtet werden kann. Cf. Marcel Mauss: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1968. Das Dilemma kann auch durch die Vorstellung der milte (Großzügigkeit) nicht praktisch behoben werden, wie Hedda Ragotzky: Die kunst der milte. Anspruch und Funktion der milte-Diskussion in Texten des Strickers. In: Gesellschaftliche Sinnan-gebote mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Gert Kaiser. München 1980, S. 77–111, annimmt; das vermag erst die Präsentation einer adäquaten Urteilskompetenz bzw. des ethischen Geschmacks, der begründbar erscheint und eingebettet ist in die le-gitimierenden Kontexte mittelalterlicher Schönheitstheorien. Dazu Gisselbaek, Kunst (wie Anm. 8).

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