Hirosuke Tachibana
Hirosuke Tachibana (Keio Universität)
Zum Problem der Repräsentation in Heinrich von Kleists
Das Erdbeben in Chili und Die Hermannsschlacht
I. Einleitung
Da man sich in religiösen Erfahrungen mit unsichtbaren, übersinnlichen We-sen wie z.B. Gott, dem Himmel usw. einlasWe-sen muss und darum die Hilfe der Einbildungskraft unerlässlich ist, wundert es nicht, dass in der Theologie und Ekklesiologie oft das Problem der Repräsentation thematisiert wird.1 Die transzendenten Wesen, die mit den Sinnen des Menschen nicht zu erfassen sind, müssen durch die Repräsentation vergegenwärtigt werden. Der Reprä-sentant macht die Existenz des Übersinnlichen wahrnehmbar, indem er als Zeichen für das Repräsentierte figuriert. Bei der Repräsentation geht es also um eine Übermittlung des unsinnlichen Sinns durch ein sinnliches Medium.
Diese Indirektheit, die der Repräsentation innewohnt, wird offensicht-lich problematisiert, wenn Heinrich von Kleist in einem Traktat die Verabso-lutierung religiöser Zeremonien deswegen anprangert, weil sie „nur Zeichen eines Gefühls” seien. „Denn mit demselben Gefühle, mit welchem Du bei dem Abendmahle das Brot nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexicaner seinen Bruder vor dem Altare sei-nes Götzen.”2 Da sich dasselbe Gefühl je nach Ort und Zeit unterschiedlich ausdrücken kann, ist die Gefahr unvermeidbar, das Zeichen des Gefühls falsch auszulegen. Diese negative Bewertung ist nicht verwunderlich, wenn man sich an die in Kleists Texten wiederholt ausgesprochene Sprachskepsis erinnert. So schreibt er in einem Brief vom 13./14. März 1803 an seine Schwester Ulrike: „Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschicken!” (DVD IV, 313) Zugunsten der unmittelbaren Kommunikation wird das sprachliche Medium in Frage gestellt.
1 Vgl. hierzu u.a. Ernst H. Kantorowicz: The Kings’ Two Bodies. A Study in Mediaeval
Political Theology. Princeton (Princeton University Press) 1957.
2 Heinrich von Kleist: ‚Über die Aufklärung des Weibes’. In: ders.: Sämtliche Werke
und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Ilse-Marie Barth u.a. Frankfurt a. M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1987–1997. Bd. III, S. 531–534, hier S. 532. Texte von Kleist werden im Folgenden generell nach dieser Ausgabe unter Angabe der Sigle DKV, der römischen Band- und der arabischen Seitenzahl im Text zitiert.
Entsprechend erweist sich in Kleists Werk auch die Auslegung repräsentativer Darstellungen, die ebenso wie die Sprache stets nur eine mittelbare Kommu-nikation ermöglichen, als höchst gefährlicher Akt.3
Dieses der Repräsentation immanente Problem, so meine These, wird bei Kleist oft im Zusammenhang mit den Reflexionen über den Ausnahmezu-stand aufgegriffen. Der AusnahmezuAusnahmezu-stand erschüttert die Ordnung, auf de-ren Grundlage der Akt der Repräsentation möglich ist. Und in diesem Punkt spielt auch die Religion eine Rolle, denn sie ist eines der Wertsysteme, die die Repräsentation der Ordnung bzw. die Ordnung der Repräsentation formen. Diese Konstellation wird in Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili im Zusam-menhang mit dem Problem der personalen Identität deutlich zur Darstellung gebracht. Der Begriff der Person, der, wie unten gezeigt werden soll, den Akt der Repräsentation voraussetzt, taucht auch im Drama Die Hermanns-schlacht in Bezug auf eine Ausnahmesituation auf. Was hier auf dem Spiel steht, ist nämlich die Person eines Mädchens, das vergewaltigt und dann erstochen wird. Die hier aufgeworfene Frage, ob man ihren Leichnam auf richtige Weise beerdigen kann oder darf, beweist, dass das religiöse Ritual, das den Tod und die Leiche codiert, auch hier als Problem der Repräsentation betrachtet wird. Bevor aber diese beiden Texte Kleists genauer betrachtet werden, soll zunächst der Begriff der Repräsentation geklärt werden.
II. Der Begriff der Repräsentation
Nach Gerhard Leibholz bedeutet ‚Repräsentieren’ im wortwörtlichen Sinne, „daß etwas nicht real Präsentes wieder präsent, d.h. existentiell wird, etwas, was nicht gegenwärtig ist, wieder anwesend gemacht wird”.4 Durch die Re-präsentation wird das Repräsentierte „als abwesend und zugleich doch
ge-3 Vgl. hierzu auch Johannes F. Lehmann: Einführung in das Werk Heinrich von Kleists.
Darmstadt (WGB) 2013, S. 66f.
4 Gerhard Leibholz: Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der
Demo-kratie im 20. Jahrhundert. 3. Aufl. Berlin (de Gruyter) 1966, S. 26. Trotz der Mehr-deutigkeit des Repräsentationsbegriffs (vgl. hierzu Paula Diehl: Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie. Eine Theorie politischer Repräsentation. Baden-Baden [Nomos] 2015, S. 43ff.) scheint diese Definition allgemein anerkannt. Vgl. z.B. Carl Schmitt: Verfassungslehre. 9. Aufl. Berlin (Duncker & Humblot) 2009, S. 209ff.; Hanna Fenichel Pitkin: The Concept of Representation. Berkeley/Los Angeles (University of California Press) 1967, S. 8f.; Barbara Stollberg-Rilinger: Vormoderne politische Repräsentation als Abbildung und Zurechnung. In: Politische Repräsenta-tion und das Symbolische. Historische, politische und soziologische Perspektiven. Hrsg. von Paula Diehl/Felix Steilen. Wiesbaden (Springer) 2016, S. 133–155, hier S.
genwärtig gedacht”.5 Nach diesem ontologisch akzentuierten Verständnis muss das Repräsentierte „eine selbständige Existentialität”6 besitzen und da-durch von der Existenz des Repräsentierenden unterschieden werden, das als Anwesendes die Existenz des Abwesenden gegenwärtig macht.7 „Das reprä-sentierende Parlament”, so schreibt Leibholz, „,ist’ nicht das Volk, der Reprä-sentant des Monarchen ,ist’ nicht der Fürst”.8 Dem Begriff der Repräsentation ist also der der Duplizität immanent und deswegen muss die Repräsentation begrifflich der Identität entgegengesetzt werden.9 Die Technik einer Fiktion oder Vergegenwärtigung von nicht Anwesendem ist bei der Darstellung reli-giöser Erfahrungen unerlässlich, da es sich hierbei um Menschen handelt, die mit übersinnlichen Wesen oder Erscheinungen in Verbindung stehen bzw. zu stehen glauben.10 Transzendente Wesen, die mit den Sinnen des Menschen nicht zu erfassen sind, müssen durch die Existenz von Repräsentanten ver-gegenwärtigt werden. Um die dem Akt der Repräsentation wesentliche Kon-stellation klar zu machen, führt Hanna Fenichel Pitkin das Beispiel der hier-archisierten Struktur der katholischen Kirche an:
5 133. Stollberg-Rilinger schreibt ähnlich wie Leibholz: „‚Repräsentation’ lässt sich in
einem ganz allgemeinen Sinn so definieren, dass jemand oder etwas Abwesendes stellvertretend gegenwärtig gemacht wird.” (Ebd.)
5 Leibholz: Das Wesen der Repräsentation (Anm. 4), S. 26. 6 Ebd., S. 27.
7 Dass für den Akt der Repräsentation zwei voneinander zu unterscheidende
Existen-zen, also die Existenz des Repräsentierten und die des Repräsentanten, nötig sind, ist auch in der Definition von Carl Schmitt vorausgesetzt: „Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und verge-genwärtigen.” (Schmitt: Verfassungslehre [Anm. 4], S. 209.)
8 Leibholz: Das Wesen der Repräsentation (Anm. 4), S. 28.
9 Vgl. ebd.: „Gehört zu jeder Repräsentation, daß es gerade das Repräsentierte, das
noch einmal in der Realität produziert werden muß, so kann man personell gewendet auch sagen, daß dem Begriff der Repräsentation die Duplizität der personellen Exis-tenz immanent ist. […] Aus der Einsicht in die jeder Repräsentation immanente Du-plizität ergibt sich weiter die Notwendigkeit, die Repräsentation begrifflich von der Identität, die auf dem Gedanken der Einheit und nicht der Zweiheit beruht, zu un-terscheiden.” Ähnlich auch Schmitt: Verfassungslehre (Anm. 4), S. 214–216. Zum Repräsentationsbegriff bei Schmitt und Leibholz vgl. auch Diehl: Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie (Anm. 4), S. 69–77. In Bezug auf Leibholz’ Hin-weis auf die Duplizität schreibt Diehl: „Wie bei Schmitt bedeutet es auch, dass Re-präsentanten und Repräsentierte keine Einheit bilden und nicht identisch sind […].” (Ebd., S. 74.)
10 Zur Bedeutung der Repräsentation in der Theologie und Ekklesiologie vgl.
Kantoro-wicz: The King’s Two Bodies (Anm. 1); Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/ Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politi-schen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. (Fischer) 2007, S. 69ff.
The Pope is a member of the community of Catholics, but it is not that community that he here represents. He is said to represent Christ, and the community is a sort of audience or third party, which either believes or does not believe in the representation. And presumably if no one believes that the Pope represents Christ, he does not. The example does not require (and logically could not really require) that the represented, Christ, must believe in the representation for it to exist. We must look to the beliefs of people outside the representative relation itself, to ob-servers or audience.11
So figuriert der Repräsentant als Zeichen. Da ein Zeichen seine Funktion, das Andere zum Ausdruck zu bringen, erst dann erfüllen kann, wenn es gelesen und verstanden wird, ist es nicht verwunderlich, dass Pitkin hier neben den beiden genannten Existenzen, dem Repräsentierten und dem Repräsentan-ten, noch den Adressaten als eine der nötigen Komponenten erachtet, die den Akt der Repräsentation ermöglichen.12 Der Papst kann nur in der Imagi-nation des Adressaten Jesum Christum repräsentieren. Dies setzt aber sei-nerseits voraus, dass die katholische Weltanschauung vom Adressaten geteilt wird. Denn für denjenigen, der von ihr keine Kenntnis bzw. keine Beziehung zu ihr hat, ist es unmöglich, mittels der Existenz des Papstes die von Jesus Christus vorzustellen. Zu dieser Konstellation schreibt Carl Joachim Friedrich: „[R]epresentation may be based upon any system of values which a certain community shares. Thus the Pope is said ‚to represent Christ on earth.’ Evi-dently he does so only for a believing Catholic”.13 Was die triadische Struktur der Repräsentation fundiert, ist das Wertsystem, das vom Adressaten geteilt wird.14 Erst wenn er das durch die katholische Theologie bestimmte Wertsys-tem anerkennt, kann er den Körper des Papstes als ein ‚Zeichen’ auslegen.
11 Pitkin: The Concept of Representation (Anm. 4), S. 105.
12 Vgl. Pitkin: The Concept of Representation (Anm. 4), S. 104–111. Ähnlich auch Carl
Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form. 5. Aufl. Stuttgart (Klett-Cotta) 2008, S. 36; Leibholz: Das Wesen der Repräsentation (Anm. 4), S. 40; Diehl: Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie (Anm. 4), S. 80, 94–97.
13 Zitiert nach Pitkin: The Concept of Representation (Anm. 4), S. 105.
14 Vgl. auch Leibholz: Das Wesen der Repräsentation (Anm. 4), S. 40: „Eine solche
Repräsentation setzt in der Person des Adressaten eine bestimmt geartete Homoge-nität voraus und ist daher nur möglich, wenn sich das Wirken der Personen, denen gegenüber die Repräsentation stattfindet, in der grundsätzlich gleichen, ideellen Wertsphäre bewegt wie das der Repräsentanten.” Auch Diehl geht von der Überle-gung aus, dass sich politische Repräsentation an „Wertsysteme[n]” orientiert und „einer Weltanschauung, einer Organisation der Welt” bedarf. (Diehl: Das Symboli-sche, das Imaginäre und die Demokratie [Anm. 4], S. 95.) In Anlehnung an Umberto Ecos Reflexionen über den Code als „sozio-kulturelles Produkt” (ebd., S. 94) schreibt sie: „Für die politische Repräsentation bezeichnet der Code bestimmte Regeln der
Die Existenz des Adressaten im Akt der Repräsentation wird auch in Kleists oben genanntem Traktat vorausgesetzt, das auf die Gefahr hinweist, das Zei-chen des Gefühls falsch zu lesen.
III. Die Auflösung der repräsentativen Ordnung im Ausnahmezu-stand. Zur Erzählung Das Erdbeben in Chili
Was die Erzählung Das Erdbeben in Chili, deren erste Fassung 1807 erschien, in ihrem ersten Teil darstellt, ist der Prozess, wie eine junge Adlige zu einer frevelhaften Verbrecherin wird. Josephe, die einzige Tochter „eine[s] der reichsten Edelleute der Stadt” St. Jago, des Don Henrico Asteron (DKV III, 189), wird wegen ihrer Liebesaffäre mit Jeronimo Rugera, der als ihr Haus-lehrer angestellt war, von ihrem Vater ins dortige „Karmeliter-Kloster” ge-schickt (DKV III, 189). Mit ihrer Liebe verstößt sie nicht nur gegen die patri-archalische Ordnung der Familie.15 Die Liebesbeziehung einer Adligen mit einem bürgerlichen Hauslehrer widerspricht auch den Normen der Ständege-sellschaft. Jeronimo gelingt es, sich ins Kloster zu schleichen und „in einer verschwiegenen Nacht den Klostergarten zum Schauplatze seines vollen Glü-ckes” zu machen (DKV III, 189). Ausgerechnet als „am Fronleichnamsfeste […] die feierliche Prozession der Nonnen, welchen die Novizen folgten”, ihren Anfang nimmt, sinkt Josephe wegen der einsetzenden Wehen „beim An-klange der Glocken […] auf den Stufen der Kathedrale” nieder (DKV III, 189). Damit werden auch religiöse Normen verletzt. Josephe wird daraufhin auf Befehl des Erzbischofs der Prozess gemacht und das Gericht verhängt die Todesstrafe über sie. Wegen der Fürbitten der Familie und der Äbtissin wird der „Feuertod”, den „das klösterliche Gesetz” für dieses Verbrechen eigentlich vorsieht, „zur großen Entrüstung der Matronen und Jungfrauen von St. Jago, durch einen Machtspruch des Vizekönigs in eine Enthauptung verwandelt” (DKV III, 191). Die öffentliche Meinung der Stadtbewohner ist über diesen „Skandal” empört (DKV III, 191).
15 Darstellung, Inszenierung, Visualisierung etc., die die Vergegenwärtigung des
reprä-sentierten Objektes durch politische Repräsentanten, Symbole, Bilder, Diskurse usw. ermöglichen. Diese Regeln setzen ein kollektiv geteiltes Wissen voraus, das den Code verständlich macht.” (Ebd., S. 94f.)
15 Vgl. auch Maximilian Bergengruen/Roland Borgards: Bann der Gewalt. Theorie und
Lektüre (Foucault, Agamben, Derrida/Kleists Erdbeben in Chili). In: Deutsche Vier-teljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 2 (2007), S. 228– 256, hier S. 241.
Als Ergebnis einer spontanen natürlichen Liebe wird ein Kind geboren. Was dies frevelhaft macht bzw. es so erscheinen lässt, sind die sozialen Sys-teme, die nicht nur der politischen und rechtlichen Organisation der Stadt, sondern auch dem Leben und Normbewusstsein der Stadtbewohner zu-grunde liegen: die patriarchalische Familie, die Kirche und die von dieser abhängige Justiz. Auf der Grundlage dieser Systeme wird Josephe als frevel-hafte Verbrecherin identifiziert. Im Folgenden scheinen nun durch das Erdbe-ben, das gerade dann ausbricht, als Josephe am Tag der Hinrichtung zum Richtplatz geführt wird, die Instanzen, die diese Systeme vertreten, zu-grunde zu gehen:
Sie [Josephe] hatte noch wenig Schritte getan, als ihr auch schon die Leiche des Erzbischofs begegnete, die man so eben zerschmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Palast des Vizekö-nigs war versunken, der Gerichtshof, in welchem ihr das Urteil gespro-chen worden war, stand in Flammen, und an die Stelle, wo sich ihr vä-terliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte rötliche Dämpfe aus. (DKV III, 199)
Das Erdbeben rettet nicht nur das Leben Josephes. Es zerstört auch die Kir-che, den Palast des Souveräns, den Gerichtshof und das väterliche Haus. Auch der Erzbischof, der Josephe vor Gericht gefordert hat, kommt ums Le-ben. Diese Institutionen, die für das Todesurteil gegen Josephe verantwort-lich waren, sind bis zum Erdbeben die Träger jener Ordnung, die das Leben in der Stadt regelt und organisiert.16 Im Rahmen dieser Ordnung kann man identifizieren, wer Josephe ist: Josephe ist adeliger Herkunft; sie wurde zur Enthauptung verurteilt, weil sie im Klostergarten sexuellen Kontakt gehabt, während der Prozession ein Kind geboren und dadurch gegen das klösterliche Gesetz verstoßen hat. Nun scheint die Ordnung, die diese für Josephe tödlich wirkende Identifikation ermöglicht hat, gänzlich zerstört zu sein. Es ist ver-ständlich, dass ihr das Zusammensein der Überlebenden außerhalb der Stadt utopisch vorkommt:
Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäu-erinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Kloster-frauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freu-dig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück Alles, was ihm entronnen
16 Vgl. auch ebd., S. 245: „Der Erzähler macht deutlich, dass alle Instanzen, die in
irgendeiner Form für den Ausschluss Josephens aus der bürgerlichen Gesellschaft und ihre verschiedenen Formen von Bestrafung bis hin zum Todesurteil zuständig waren, zerstört sind […].”
war, zu einer Familie gemacht hätte. (DKV III, 207) (Hervorhebung im Original)
Angesichts der allgemeinen Lebensgefahr sind, wie es scheint, auch die Stan-desunterschiede und damit die Rechtsnormen aufgehoben, mit denen das Todesurteil begründet wurde. In Bezug auf diese Beschreibung kann man mit gutem Grund von einem Ausnahmezustand sprechen.17 Der Ausnahmezu-stand, dessen Theoriegeschichte bis in die römische Antike zurückreicht,18 ist ein Rechtsinstitut, das zum Zweck der Krisenintervention in das römische Verfassungsgefüge eingeführt wurde.19 Um eine Krise, die die Existenz der geltenden Ordnung der Gesellschaft selbst gefährdet, möglichst schnell zu überwinden, werden die „Exekutivkompetenzen” „unter Inkaufnahme von Normsuspendierungen” expandiert.20 Das Recht hebt sich selbst auf, um die Rechtsordnung zu verteidigen. An die Stelle des Rechts setzt sich die nackte Gewalt eines Diktators, der „mit konkreten Mitteln in den kausalen Ablauf des Geschehens unmittelbar eingreifen” muss.21 Um der nackten Gewalt, die die Existenz des bloßen Lebens bedroht, zu begegnen, verwendet der Diktator selbst die nackte Gewalt. In Bezug auf die Diktatur schrieb schon Rudolph von Jhering:
Aber über dem Recht steht das Leben, und wenn die Lage in Wirklichkeit eine solche ist, wie wir hier voraussetzen, ein politischer Notstand, der sich zu der Alternative zuspitzt: das Recht oder das Leben, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein – die Gewalt opfert das Recht und rettet das Leben.22
Dieser Gegensatz zwischen der Rechtsform auf der einen, der schlichten Tat-sache des Lebens auf der anderen Seite bestimmt offensichtlich Kleists Dar-stellung des Überlebens nach der Zerstörung der Stadt. Angesichts der allge-meinen Lebensbedrohung sind die Überlebenden einander insofern gleich, als
17 So ebd., S. 244–246; Nicolas Pethes: Vorwort. In: Ausnahmezustand der Literatur.
Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist. Hrsg. von ders. Göttingen (Wallstein) 2011, S. 7–17, hier S. 11; Johannes F. Lehmann: Rettung bei Kleist. In: Ausnahmezustand der Literatur. Hrsg. von Nicolas Pethes. Göttingen (Wallstein) 2011, S. 249–269, hier S. 249–254.
18 Vgl. hierzu Matthias Lemke: Demokratie im Ausnahmezustand. Wie Regierungen
ihre Macht ausweiten. Frankfurt a. M. (Campus) 2017, S. 52–118.
19 Vgl. ebd., S. 53–59. 20 Ebd., S. 14.
21 Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen
Souveränitätsgedan-kens bis zum proletarischen Klassenkampf. 3. Aufl. Berlin (Duncker & Humblot) 1964, S. 11.
22 Rudolph von Jhering: Der Zweck im Recht, 1. Bd. 2. Aufl. Leipzig (Breitkopf & Härtel)
sie alle einer nackten Gewalt ausgesetzt sind.23 In dieser existenziellen Un-terschiedslosigkeit verschwinden die Standesunterschiede; auch alle Privile-gien, die auf diesen basieren, verlieren ihre Geltung. Nach Johannes F. Leh-mann ist dieser auf die Menge utopisch wirkende Zustand durch Anonymität gekennzeichnet:
Das Zusammentreffen der Menschen ist nach dem Erdbeben von keiner gesellschaftlich gültigen Hierarchie her mehr organisiert. Es gibt im Tal keinen situativen Rahmen mehr, der bereits vorab die Identitäten der Beteiligten klärt, sondern es treffen Menschen aufeinander, für die un-klar ist, wer sie sind, ob sie jemanden kennen oder ob sie von jemandem gekannt werden und welche Konsequenzen das hat. Das Erdbeben er-schüttert nicht nur die Machtinstitutionen, sondern zugleich die gesell-schaftlichen und sprachlichen Zuweisungs- und Zurechnungsprozesse von Identität.24
Folglich wähnt sich Josephe in dieser ‚Utopie’ von der Sorge befreit, als eine zum Tod verurteilte adelige Frau erkannt zu werden. „Im Ausnahmezustand nach dem Erdbeben in Chili, das alle Macht-Institutionen zerstört hat, sind auch die gesellschaftlich codierten Identitäten gleichsam aufgehoben. Jo-sephe ist im Tal, in dem die Geretteten sich versammeln, nicht mehr die vom Recht Verurteilte, sondern nunmehr Frau als biologisches Wesen […]”,25 so Lehmann.
Aber die Ruhe, die Josephe im Ausnahmezustand zuteil wird, dauert nicht lange. Schon am nächsten Morgen spricht sie „ein junger wohlgekleide-ter Mann” an und sie erblickt „in ihm einen Bekannten”, Don Fernando (DKV III, 203). Seine Kleidung deutet seinen Status in der ständischen Ordnung an. Auch wegen des „Don” (= „Herr”) in seinem Namen ist zu vermuten, dass er wie Josephe dem Adelsstand angehört. Damit erinnert er sie an die Gesell-schaft, die sie zum Tod verurteilte. Selbstverständlich kann dieser Bekannte seinerseits identifizieren, wer sie ist. Für ihn ist Josephe eine zum Tod Verur-teilte.26 Es verwundert nicht, dass sie im Moment dieses Treffens „ein wenig verwirrt” ist (DKV III, 203). In der Tat erweist sich Josephes utopische Vor-stellung der in der Krise versöhnten Gemeinschaft als Illusion. Denn in der Dominikanerkirche, die Josephe und Jeronimo am Ende des Textes besuchen, um Gott für die Rettung zu danken, fallen sie der Gewalt der wütenden Menge zum Opfer. Das Erdbeben, dessen Ausbruch das Liebespaar als Äußerung der „unbegreifliche[n] und erhabene[n] Macht” des Schöpfers bewundert (DKV
23 So auch Lehmann: Rettung bei Kleist (Anm. 17), S. 250ff. 24 Lehmann: Einführung (Anm. 3), S. 96.
25 Lehmann: Rettung bei Kleist (Anm. 17), S. 251. 26 So Lehmann: Einführung (Anm. 3), S. 96.
III, 211), wird in der Predigt des Chorherrn als „Ausdruck des göttlichen Zorns”27 über den Frevel gedeutet, der durch die beiden verübt worden sei. Durch diese Predigt aufgehetzt, sucht der Haufen die Frevlerin und den Frev-ler, um sie vom Leben zum Tod zu bringen. So führt der Versuch, das Erdbe-ben als Zeichen zu lesen, mitsamt den damit verbundenen Handlungsweisen (Gang zur Kirche) zu einer tödlichen Folge.28
Aber schon am Verlust oder der Zuweisung der personalen Identität, wie Kleist sie hier im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand in Szene setzt, lässt sich die Problematik der Repräsentation aufzeigen. Der Papst kann nur in der Vorstellung der hierarchisierten Ordnung der katholischen Kirche Jesum Christum repräsentieren. Auch die personale Identität eines Individuums setzt die Ordnung der Gesellschaft als Ganzes voraus, zu der es gehört. Die Ordnung der Stadt St. Jago ist durch die sozialen Systeme (die patriarchalisch organisierte Familie, die katholische Kirche und die Justiz) und deren Normen bestimmt. Innerhalb dieser Ordnung wird Josephe ihre perso-nale Identität zugeschrieben. Wer sie ist, hängt von der Position ab, die sie in der Hierarchie dieser Ordnung einnimmt. Die Stadtbewohner, die die Vor-stellung dieser Ordnung teilen, sind imstande, Josephe als Person zu identi-fizieren. Dabei fungieren ihr Körper und ihr Name als Zeichen, an denen die Stadtbewohner ihre Person erkennen. Beides repräsentiert hier, kann man sagen, die Person des Individuums. Aber in der Vorstellung des Ausnahme-zustandes wird die Daseinsweise jedes Individuums auf das ‚bloße Leben’ reduziert,29 das, so schreibt Lehmann in Anlehnung an Giorgio Agambens Theorie des Homo sacer, „als Rest übrig bleibt, wenn man sich die soziale, politische und die rechtliche Stellung eines Menschen wegdenkt”.30 In dieser existenziellen Unterschiedslosigkeit des ‚bloßen Lebens’ ist theoretisch keine Repräsentation mehr möglich, denn der Begriff der Repräsentation impliziert
27 Ebd., S. 97.
28 Dass das Erdbeben, also ein zufällig ausgebrochenes Naturphänomen, hier
unter-schiedlich interpretiert wird, betonen z.B. Werner Hamacher: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1998, S. 245ff., und Hartmut Böhme: ‚Diese ungeheure Wendung der Dinge’. Zur Wirkkraft der Objekte in Kleists Werk. In: Kleist-Jahrbuch (2015), S. 23–46, hier S. 38. Böhme schreibt: „Im ‚Erdbeben in Chili’ werden die teleologischen Urteile der Personen zu hermeneutischen Fallen, die sich als tragische Selbsttäuschungen mit tödlichen Folgen erweisen.” (Ebd.)
29 Zum Begriff des bloßen Lebens vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität
der Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frank-furt a. M. (Suhrkamp) 2002.
den der Duplizität, d.h. die Repräsentation setzt die Unterscheidung oder in unserem Fall die Hierarchie voraus.
IV. Die physische und semiotische Zersetzung einer Person. Zur Hally-Szene aus dem Drama Die Hermannsschlacht
Kleist macht das Problem der personalen Identität auch in seinem Drama Die Hermannsschlacht zum Thema, das unter dem direkten Einfluss der Propa-gandakampagne, die im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon geführt wurde, in der zweiten Hälfte des Jahres 1808 entstand.31 Eines der Anliegen des cheruskischen Fürsten Hermann besteht darin, das Volk zum Aufstand gegen den Feind anzustacheln. Für diesen Zweck betreibt er Propaganda. Im Rahmen dieser Bestrebungen instrumentalisiert Hermann die Leiche eines von den Römern vergewaltigten germanischen Mädchens, das nach der Vergewaltigung von den Männern ihrer Familie erdolcht wird. Was hier auf dem Spiel steht, ist die personale Identität dieses Mädchens.
Im Dramentext wird die Vergewaltigte zunächst bloß als „Person” ein-geführt:
Die Person, von zwei Cheruskern geführt, erscheint.
DER GREIS Hinweg die Fackeln!
DAS VOLK Seht, o seht!
DER GREIS Hinweg!
– Seht Ihr nicht, daß die Sonne sich verbirgt? DAS VOLK O des elenden, schmachbedeckten Wesens!
Der fußzertretnen, kotgewälzten,
An Brust und Haupt, zertrümmerten Gestalt. EINIGE STIMMEN
Wer ist’s? Ein Mann? Ein Weib? DER CHERUSKER der die Person führt:
Fragt nicht, Ihr Leute, Werft einen Schleier über die Person!
Er wirft ein großes Tuch über sie. (DKV II, 507)
31 Zum historischen Kontext dieses Dramas vgl. Richard Samuel: Heinrich von Kleists
Teilnahme an den politischen Bewegungen der Jahre 1805–1809 (Titel des engli-schen Originals: Heinrich von Kleist’s Participation in the Political Movements of the Years 1805–1809 [1938]). Deutsch von Wolfgang Barthel. Frankfurt a. d. O. (Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte) 1995; Hermann F. Weiss: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist. Tübingen (Niemeyer) 1984; Wolf Kittler: Die Geburt des Parti-sanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befrei-ungskriege. Freiburg i. Br. (Rombach) 1987, S. 218–255.
Die Person ist äußerlich so entstellt, dass man nicht mehr erkennen kann, ob sie Mann oder Frau ist. Was man an ihrem Äußeren erkennen kann, ist einzig, dass dieses Wesen eine Person ist. Es sieht so grauenvoll aus, dass es mit einem Schleier verhüllt werden muss. Auch der Vater, der Waffenschmied Teuthold, kann zuerst nicht identifizieren, wer diese Person ist, weil sie ver-schleiert ist. Erst an den Füßen kann er seine Tochter erkennen:
Er nimmt eine Fackel und beleuchtet ihre Füße.
TEUTHOLD Gott im Himmel! Hally, mein Einziges, was widerfuhr Dir? (DKV II, 508)
Nachdem der Vater von der schlimmen Tat erfahren hat, die Hally widerfuhr, ersticht er mit den „Vettern” die eigene Tochter mit den Worten: „Stirb! Werde Staub! Und über Deiner Gruft / Schlag’ ewige Vergessenheit zusam-men!” (DKV II, 509) Hally „fällt”, so die Regieanweisung, „mit einem kurzen Laut, übern Haufen” (DKV II, 509). Diese Tötung geht über einen Versuch hinaus, die Ehre der Tochter und der Familie zu retten. Denn Teutholds Qual ist so groß, dass er alles vertilgen will, was ihn an Hally erinnert. Sein Ruf deutet, wie Christine Künzel schreibt, darauf hin, dass er diese Tötung als „Akt des Vergessens, des Auslöschens der persönlichen Identität”32 vollzie-hen will. Er hat an den Füßen die „Person” als Hally identifiziert. Dieser Kör-perteil fungiert hier als ‚Zeichen’. Entsprechend hat die Forschung darauf hin-gewiesen, dass mit diesem Tötungsakt eine Semiotik des Körpers themati-siert wird. Nun muss das Zeichenhafte des Körpers beseitigt werden, sonst kann der Vater die Tochter nicht vergessen. Was sich daraus ergibt, soll eine formlose und deswegen bedeutungslose Materie sein, die nichts mehr reprä-sentiert. Hally muss im wörtlichen Sinne „Staub” (DKV II, 509) werden.33 32 Christine Künzel: Gewaltsame Transformationen. Der versehrte weibliche Körper als
Text und Zeichen in Kleists ‚Hermannsschlacht’. In: Kleist-Jahrbuch (2003), S. 165– 183, hier S. 177.
33 Auf semiotische Reflexionen, die in der Hally-Szene entwickelt werden, weist auch
Künzel hin (vgl. ebd., S. 177f., 180). Nach ihr wirkt hier „die geschlechterspezifische Konzeption von Material und Form in ästhetischen Diskursen des 18. Jahrhunderts […], in der der weibliche Körper als formbares Material erscheint, das erst durch die Bearbeitung eines männlichen Künstlers Form und Bedeutung erhält” (ebd., S. 180). Nach Barbara Vinken wird Hally durch den Tötungsakt der Familienmänner, also das Aufbrechen, zu einer Jagdbeute, einem „vogelfreien Homo sacer” (Barbara Vinken: Bestien. Kleist und die Deutschen, Berlin [Merve] 2011, S. 68) erniedrigt (vgl. ebd., S. 66–69). In ihrer Argumentation beziehen sich Künzel und Vinken auf den Aufsatz Bettine Menkes, die in Bezug auf die Zerfällung des Körpers in Kleists Penthesilea von der „Unform” des Staubes spricht (vgl. Künzel: Gewaltsame Transformationen [Anm. 32], S. 177, Anm. 65; Vinken: Bestien, S. 68, Anm. 52). Menke schreibt: „Der apollinischen Organisation der Körperganzheit steht die Unform des ,Staubes’ und
Diesem Bild der semiotischen Zersetzung des Körpers entspricht der Hinweis der Regieanweisung auf den „kurzen Laut” (DKV II, 509), der beim Zusam-mensinken Hallys vernehmbar ist. Obwohl es, worauf Künzel hinweist, nicht sicher ist, „ob sie im Fallen einen (menschlichen) Ton, Laut von sich gibt oder erst ihr gefallener Körper den Laut produziert”,34 kann man zumindest an-nehmen, dass der produzierte Laut keinen Sinn mehr vermittelt.
Schon dass der Begriff der Person in den Regieanweisungen und im Dialog wiederholt auftaucht,35 ist semiotisch von Bedeutung. Kleists Ge-brauch des Wortes spiegelt dessen semantische Vielschichtigkeit wider.36 Wenn die Vergewaltigte „Person” genannt wird, kann man annehmen, dass sie von den Figuren auf der Bühne als ein menschliches Wesen betrachtet wird. Das Wesen tritt ohnmächtig auf. Wegen der „fußzertretnen, kotgewälz-ten, / An Brust und Haupt, zertrümmerten Gestalt” kann man nicht einmal das Geschlecht erkennen (DKV II, 507). Trotzdem weiß man zumindest, dass es um ein menschliches Wesen, d.h. eine Person, geht. Es ist kein vernunft-loses Wesen, keine Sache. Als es auf die Bühne gebracht wird, besitzt dieses Wesen noch Persönlichkeit.37 Wenn von der entstellten „Gestalt” die Rede ist, wird damit auf eine Person im Sinn der äußeren Erscheinung hingewiesen. Die Regieanweisung, die die Szene einleitet, besagt, dass „zwei Cherusker […] eine Person aufführen, die ohnmächtig ist” (DKV II, 506). Künzel be-merkt, dass schon diese Kombination von ‚Person’ und ‚Aufführen’ die thea-tralische Herkunft des Begriffs der Person andeutet, die etymologisch auf
34 ,Kots’ entgegen, an die sich die ,Gestalt’ oder das ,Angesicht’, der ganze Körper als
Bild der Integrität entstellt, ent-staltet verlieren muß […]. Dieses ‚(Nicht)Bild’ des Körpers ist Verweigerung, Aufkündigung der apollinischen Ordnung der Bilder, der Darstellbarkeit und Erkennbarkeit.” (Bettine Menke: „Penthesilea” – das Bild des Körpers und seine Zerfällung. In: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. Hrsg. von Günter Emig. Heilbronn [Kleist-Archiv Sembdner] 2000, S. 117–136, hier S. 127.) (Hervorhebung im Original) Diese Vorstellung der formlosen Materie, die nichts darstellt, drückt sich offensichtlich im Bild von Hallys Körper aus.
34 Künzel: Gewaltsame Transformationen (Anm. 32), S. 166, Anm. 10.
35 Künzel macht darauf aufmerksam, dass der Begriff der Person hier sieben Mal
ge-braucht wird (vgl. ebd., S. 171, Anm. 29).
36 Zu den Bedeutungen des Personenbegriffs in der Zeit von Kleist vgl. Joachim
Hein-rich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. III. Hildesheim/New York (Olms) 1969 (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1809), S. 601.
37 Deswegen ist es ungenau, wenn Barbara Vinken schreibt: „Eine ohnmächtige,
na-menlose Person, an der alles Menschliche durch bestialische Gewalt zur Unkenntlich-keit entstellt ist, wird auf die Bühne geführt. Diese Unperson taucht im Personenre-gister erst gar nicht auf, weil sie ihrer Gestalt und ihres Bewusstseins beraubt keine Person mehr ist.” (Vinken: Bestien [Anm. 33], S. 65f.)
‚persona’ als ‚Maske des Schauspielers’ zurückgeht.38 Im Zusammenhang mit dem Bühnenvokabular führt Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache (1809) ein Beispiel an: „Stumme Personen, in der Büh-nensprache, welche nur mit auftreten als Nebenpersonen, und an der Hand-lung keinen thätigen Antheil nehmen, daher auch gar nicht sprechend aufge-führt werden.”39 Auch bei Hally in Kleists Drama, die im Personenverzeichnis nicht auftaucht, geht es um eine stumme Person. Statt aktiv in die Handlung einzugreifen, bildet sie mit ihrer „Sprachlosigkeit und Passivität”40 ein Struk-turelement der Handlung.41
Nach Campe kann der Begriff der Person auch mit „Rücksicht auf die äußeren Verhältnisse, auf Ansehen, Rang, Würde einer Person”42 gebraucht werden. Die „Stelle”, die die Person „in der bürgerlichen Gesellschaft” ein-nimmt, kann mitgemeint sein.43 Es geht um die personale Identität, wie sie auch in Das Erdbeben in Chili problematisiert wird. Feststellen kann man, dass die Hally-Szene verdeutlicht, wie wichtig der Personenbegriff für Kleist ist. Die Markierung des Begriffs wirkt gerade dann bedeutend, wenn Teuthold, indem er seine Tochter erdolcht, ruft: „Stirb! Werde Staub! Und über Deiner Gruft / Schlag’ ewige Vergessenheit zusammen!” (DKV II, 509) Für den Vater gilt es, die Person als Fundament der personalen Identität der Tochter zu zerstören.44 Die Person, die aufzeigt, wer Hally ist, muss vernich-tet und vergessen werden.
‚Person’ wird schon in der ersten Phase der Begriffsgeschichte im Sinne des Standes verwandt, den ein Individuum in der gesellschaftlichen
38 Vgl. Künzel: Gewaltsame Transformationen (Anm. 32), S. 171f. Zur Etymologie der
Person vgl. Manfred Fuhrmann u.a.: Art. ‚Person’. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Hrsg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Basel (Schwabe) 1989, Sp. 269–338, hier Sp. 269; Hasso Hofmann: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Berlin (Duncker & Humblot) 1974, S. 156ff.
39 Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. III (Anm. 36), S. 601. 40 Künzel: Gewaltsame Transformationen (Anm. 32), S. 166.
41 Vgl. ebd., S. 165f.
42 Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. III (Anm. 36), S. 601.
43 Ebd. Vgl. auch Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der
Hochdeutschen Mundart. Leipzig (Breitkopf) 1793–1801. Bd. 3, S. 692: „In engerer Bedeutung gebraucht man dieses Wort gemeiniglich von menschlichen Individuis, welche in der bürgerlichen Gesellschaft einen gewissen Rang, eine gewisse Würde bekleiden […].”
44 Vgl. auch Künzel: Gewaltsame Transformationen (Anm. 32), S. 177f. Nach Künzel
werden mit dieser Tötung „die letzten Spuren persönlicher Identität vernichtet” (ebd., S. 178).
Ordnung einnimmt.45 Die etymologische Grundbedeutung von Person ist, wie bereits erwähnt, die Maske des Schauspielers. Daraus ging die übertragene Verwendung auf die Rolle hervor, die der Schauspieler auf der Bühne spielt.46 Die Verwendung wurde dann weiter auf die Rolle erweitert, „die der Mensch in der Gesellschaft spielt”.47 Diese Erweiterung war deswegen möglich, weil sowohl die Rolle auf der Bühne als auch die in der Gesellschaft auf ein ge-samtes System angewiesen sind. Die soziale Rolle setzt eine ganze Gesell-schaft ebenso voraus wie die theatralische Rolle ein Drama. Zu dieser be-griffsgeschichtlichen Entwicklung in der römischen Antike schreibt Manfred Fuhrmann: „Die nächste Stufe der übertragenen Verwendung – [persona] = ‚Rolle, Charakter im Leben, in der Gesellschaft’ – hat sich vornehmlich in typischen Bereichen eingebürgert: innerhalb von ‚Systemen’, die dem Thea-ter darin ähneln, daß auch in ihnen ein bestimmtes ‚Ensemble’ mit je spezi-fischen ‚Rollen’ agiert, innerhalb des Gerichtswesens, des staatlichen Behör-denapparats, der ständisch gegliederten Gesellschaft und der Familie.”48 Ähnlich der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens (nach Saussure) kann dem Individuum erst in einem System eine Rolle zugeschrieben werden; die Rolle, d.h. die Person eines Individuums, hängt von der Stelle ab, die es im ganzen System einnimmt. Dies ist nichts anderes als die Konstellation, die Kleist in Das Erdbeben in Chili zur Darstellung bringt. Im System wird dem einzelnen Individuum vorgeschrieben, wie es sich gemäß seiner Rolle zu ver-halten hat. Hier muss es seine eigene Person spielen. Körper und Name re-präsentieren eine Person. Als eminentes Beispiel dieser Phase der Begriffs-geschichte führt Fuhrmann Ciceros bekannte Rollentheorie im Buch De of-ficiis an, auf das auch in Kleists Drama mit Blick auf das Problem des ‚gerech-ten Krieges’ Bezug genommen wird:49
45 Zur Begriffsgeschichte vgl. Fuhrmann u.a.: Art. ‚Person’ (Anm. 38). 46 Vgl. ebd., Sp. 269f.
47 Ebd., Sp. 269. 48 Ebd., Sp. 270.
49 Im Zusammenhang mit der Frage, wie man den Kriegsgefangenen behandeln solle,
bezieht sich Kleists Drama explizit auf Ciceros Buch De officiis. Der gefangene römi-sche Anführer Septimius reklamiert das Recht, als Kriegsgefangener schonend be-handelt zu werden. Dies sei eine „Siegerpflicht” (DKV II, 536). Darauf erwidert Her-mann: „An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe! / Er hat das Buch von Cicero gelesen.” (DKV II, 536) Dann ordnet Hermann eine sofortige Hinrichtung an. Zu dieser Bezugnahme auf Cicero vgl. Pierre Kadi Sossou: Römisch-Germanische Dop-pelgängerschaft. Eine ‚palimpsestuöse’ Lektüre von Kleists „Hermannsschlacht”. Frankfurt a. M. (Lang) 2003, S. 43–59, 132–144; ders.: Kleists „Hermannsschlacht” als literarisches Recycling. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (2003), S. 233–249,
Die Rollentheorie soll erläutern, was die „natura” dem Menschen als Gat-tungswesen und als je verschieden veranlagtem Typus vorschreibe. In ihrem Mittelpunkt steht das System der vier Masken [personae], die jeder Mensch gleichzeitig ‚trage’: Die beiden ersten Masken sind einmal die Gattungsmerkmale, in die alle Menschen sich teilen, insbesondere die Vernunft, zum anderen der für jedes Individuum spezifische Konsti-tutions- und Charaktertyp; unter den beiden anderen Masken will CI-CERO einerseits die jeweiligen Umstände, das Milieu, andererseits aber unsere eigene Entscheidung und Wahl, zumal in beruflicher Hinsicht, verstanden wissen.50
In der Person bzw. der Rolle spiegeln sich die Umstände und das Milieu wider, in denen das Individuum situiert ist. Fuhrmann betont, dass für Cicero „die Wahrung der Identität, die Übereinstimmung mit sich selbst von großer Be-deutung” sei.51 Die Identität, um die es hier gehe, sei „keine subjektive oder individualistische Kategorie, keine Einheit des Erlebens und Bewußtseins”; sie sei vielmehr „eine vom ‚Stellenplan’ der Gesellschaft aus betrachtete Größe, eine konventionelle Gegebenheit, kurz, die perpetuierte soziale Rolle”.52 Vom gesellschaftlich-familiären Stellenplan aus betrachtet, lässt sich Kleists Hally als Tochter eines germanischen Waffenschmieds identifizieren. Für Teuthold gilt es, diese Identifizierung unmöglich zu machen.
In Bezug auf den Ruf Teutholds „Stirb! Werde Staub! Und über Deiner Gruft / Schlag’ ewige Vergessenheit zusammen!” (DKV II, 509) weisen Kün-zel und Vinken53 auf eine wichtige Bemerkung in Bettine Menkes Penthesilea-Aufsatz hin.54 Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Vorstellung von dem verunstalteten (toten) Körper, die ihren radikalsten Ausdruck in der Zerflei-schung des Achilles durch Penthesilea findet. Was hier für die Modellierung des Körperbildes in der Relation von Achilles und Penthesilea herangezogen
50 hier S. 233–241. Der Krieg, den im Drama die Römer gegen die Germanen führen,
ist ein imperialistischer Eroberungskrieg. Die Römer nutzen auch ein Betrugsmanö-ver. Sie machen nämlich „die Germanen glauben, sie kämen als Freunde, nicht als Feinde = Kriegsgegner” (ebd., S. 234). Aus diesen Gründen erfüllt dieser Krieg nicht die Bedingungen des gerechten Krieges, wie ihn Cicero in De officiis definiert. Es geht um einen ungerechten Krieg. Da nach Cicero der Betrug als eine der verwerf-lichsten Ungerechtigkeiten einen „Doppeltod” verdient (ebd., S. 237), verhängt Her-mann, so Sossou, „die Todesstrafe des Kriegsgefangenen Septimius dem Ciceroni-schen Kriegskodex entsprechend” (ebd., S. 241).
50 Fuhrmann u.a.: Art. ‚Person’ (Anm. 38), Sp. 271. 51 Ebd.
52 Ebd.
53 Vgl. noch einmal Künzel: Gewaltsame Transformationen (Anm. 32), S. 177, Anm.
65; Vinken, Bestien (Anm. 33), S. 68, Anm. 52.
wird, ist die „ausführliche[ ] Auseinandersetzung um die verweigerte Bestat-tung”, die in Homers Ilias anlässlich der Schändung der Leiche Hektors durch Achilles erzählt wird.55 Nachdem der rachedurstige Achilles Hektor in die Kehle gestochen hat, sinkt dieser in den Staub. Trotz der Bitte Hektors, ihn „nicht an den Schiffen der Danaer Hunde zerreißen” zu lassen, verweigert Achilles eine richtige Bestattung.56 Stattdessen bindet er die Füße des Über-wundenen am Wagen fest und schleift ihn kopfüber „durch den Staub”.57 Nach Menke weist dieser Akt der „Verunehrung des toten Körpers, die Schän-dung der Leiche, die gleichsam vorgreift auf den sich zersetzenden Körper”, „negativ die Funktion der Bestattung” auf: „durch die dem toten Körper ge-widmeten Rituale hat sie den Toten in die symbolische Ordnung wiedereinzu-fügen”.58 Wenn Achilles umgekehrt die Leiche durch den Staub schleift und dann im Staub liegen lässt, dann heißt das „nichts anderes, als den Toten zu desintegrieren, […] ihn durch Ausschluß aus der Ordnung des Sag- und Nennbaren dem Vergessen auszusetzen”
.
59 Die Vorstellung eines unversehr-ten Körpers steht hier mit ihrer „Ganzheit, Geschlossenheit und […] Grenze” für die repräsentative sprachliche Ordnung der „Erkenntnis und Darstel-lung”.60 Kleists Drama Penthesilea spielt mit diesem Gegensatz, indem es auf den genannten Akt Achilles’ wiederholt anspielt.61 Die „Unform des ,Staubs’ und ,Kots’”, die hier dem Bild der Körperganzheit entgegengestellt wird, steht dabei für die „Verweigerung, Aufkündigung der apollinischen Ordnung der Bilder, der Darstellbarkeit und Erkennbarkeit”.62 Kleist greift diesen Gegen-satz auch in der Hermannsschlacht auf, die ebenso wie Penthesilea im Jahr 1808 entstanden ist. Mit Teutholds „Werde Staub!” wird die Tötung auch als der Akt inszeniert, seine Tochter aus der symbolischen Ordnung auszusto-ßen, in der Körper und Name die Person repräsentieren konnten. Das religi-öse Ritual der Bestattung, das die Funktion hat, die Leiche zu codieren und55 Ebd., S. 117.
56 Homer: Ilias, übers. von Johann Heinrich Voß, zitiert nach Menke: „Penthesilea”
(Anm. 33), S. 118.
57 Menke: „Penthesilea” (Anm. 33), S. 118. 58 Ebd., S. 117.
59 Ebd., S. 117f. 60 Ebd., S. 119.
61 So lässt Kleist z.B. die durch Achilles überwundene, verzweifelte Penthesilea sagen:
„Laßt ihn [Achilles] mit Pferden häuptlings heim mich schleifen, / Und diesen Leib hier, frischen Lebens voll, / Auf offnem Felde schmachvoll hingeworfen, / Den Hun-den mag er ihn zur Morgenspeise, / Dem scheußlichen Geschlecht der Vögel, bieten. / Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt.” (DKV II, 188) Vgl. hierzu auch Menke: „Penthesilea” (Anm. 33), S. 132, Anm. 4.
damit die Person des Verstorbenen in die repräsentative Ordnung zu integ-rieren, darf nicht durchgeführt werden.
Aber dieser Versuch des Vaters scheitert, denn er äußert schon im nächsten Augenblick nach dem Niederfallen seiner Tochter: „Hally! Mein Einz’ges! Hab’ ich’s recht gemacht?” (DKV II, 509) Hier zeigt sich, dass der Vater seine Tat bereut. Er kann Hally nicht vergessen. Dies ist aber auch selbstverständlich, da der Körper, an dessen Teil, also den Füßen, Teuthold seine Tochter identifiziert hat, noch vorhanden ist. Nun übernimmt Hermann die Aufgabe, dieses von Teuthold angeleitete Unternehmen, die Person Hallys zu vernichten, zu vollenden. Der cheruskische Fürst, der herbeigerufen wird, befiehlt dem zur väterlichen Liebe zurückgerufenen Teuthold, wieder un-menschlich zu werden:
Brich’, Rabenvater, auf, und trage, mit den Vettern, Die Jungfrau, die geschändete,
In einen Winkel Deines Hauses hin!
Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner; In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe, Teil’ ihren Leib, und schick’ mit funfzehn Boten, Ich will Dir funfzehn Pferde dazu geben, Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu. Der wird in Deutschland, Dir zur Rache, Bis auf die toten Elemente werben:
Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend, Empörung! rufen, und die See,
Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen. (DKV II, 511)
Als ein „Rabenvater” muss Teuthold den Körper, der ihn an die Tochter erin-nert, zerstückeln, d.h. die Leiche schänden. Was nach diesem Akt übrig-bleibt, sind fünfzehn Fleischstücke, die sie dem natürlichen Prozess des Ver-derbens überlassen.63 Es ist unvermeidbar. Im Hinblick auf die Vorstellung der geschändeten Leiche in Penthesilea kann man annehmen, dass Hallys Körper damit auch die Möglichkeit verliert, auf richtige Weise, d.h. mit einem
63 Auch hierzu ist das Drama Penthesilea aufschlussreich. Penthesilea, die, nachdem
sie „den grimm’gen Hunden beigesellt […] Die Glieder des Achilles […] in Stücke[ ]” gerissen hat (DKV II, 239), wieder zu sich gekommen ist, offenbart angesichts sei-ner verunstalteten Leiche: „Doch wer, o Prothoe, bei diesem Raube / Die offne Pforte ruchlos mied, durch alle / Schneeweißen Alabasterwände mir / In diesem Tempel brach; wer diesen Jüngling, / Das Ebenbild der Götter, so entstellt, / Daß Leben und Verwesung sich nicht streiten, / Wem er gehört, wer ihn so zugerichtet, / Daß ihn das Mitleid nicht beweint, die Liebe / Sich, die unsterbliche, gleich einer Metze, / Im Tod noch untreu, von ihm wenden muß: / Den will ich meiner Rache opfern.” (DKV II, 252)
religiösen Ritual, bestattet zu werden. Sie wird aus der repräsentativen Ord-nung ausgestoßen. Der Wunsch Teutholds, der sich in seinem Ruf „Werde Staub!” ausgedrückt hat, erfüllt sich erst in diesem Moment. Der Körper ver-liert nicht nur seine äußere Gestalt, sondern er hört auch auf, Zeichen für eine Person zu sein. Nun erst kann man von einem „Auslöschen[ ] der per-sönlichen Identität”64 oder von einer „Unperson”65 sprechen. Hermann ge-braucht diesen als pure Materie übriggebliebenen Körper für seine Hetzpro-paganda, die darauf abzielt, die fünfzehn Stämme durch ihre Rachbegier zu einen und zu einem Kampf zu mobilisieren, der wegen seines elementaren Gewaltausbruchs den Naturphänomenen vergleichbar sein soll.66 Wolf, der Fürst der Katten, äußert nach der Schlacht im Teutoburger Wald: „Hally, die Jungfrau, die geschändete, / Die Du [Hermann], des Vaterlandes Sinnbild, / Zerstückt in alle Stämme hast geschickt, / Hat unsrer Völker Langmut aufge-zehrt. / In Waffen siehst Du ganz Germanien lodern […].” (DKV II, 551) So bekommt Hallys Körper, von dem das Zeichenhafte der Person abgenommen wurde, eine neue Bedeutung: Die zerstückelte Leiche der Vergewaltigten ist zum Symbol des geschändeten Vaterlandes geworden.
Die personale Identität, die dem Individuum innerhalb des ganzen Systems zugeschrieben wird, wird durch seinen Körper und seinen Namen repräsentiert. Insofern ist die Repräsentation der Daseinsweise des Men-schen wesentlich. Bei Kleist erweist sich das Fundament dieser personalen Identität, d.h. die Vorstellung des Wertsystems, in der extremen Situation als unsicher. In der Erzählung Das Erdbeben in Chili scheint die für Josephe töd-lich wirkende Identität als Verbrecherin im Moment des Ausnahmezustandes verloren zu gehen. Für den cheruskischen Fürsten im Drama Die Hermanns-schlacht gilt es, dezidiert die Person eines Mädchens zu zerstören, um dann ein Sinnbild des geschändeten Vaterlandes zu erschaffen. Die Religion er-scheint dabei als eine der Machtinstitutionen, die die gesellschaftliche Ord-nung formen, in der die Repräsentation funktioniert. Aber der Ausnahmezu-stand beweist, wie unsicher ihre Macht ist.
64 Künzel: Gewaltsame Transformationen (Anm. 32), S. 177. 65 Vinken: Bestien (Anm. 33), S. 65.
66 So auch ebd., S. 69f.; Böhme: ‚Diese ungeheure Wendung der Dinge’ (Anm. 28), S.